Doch, doch: Das Leben war eigentlich schon immer gerecht zu mir. Ich war mir dessen schon mit Eintritt in die Pubertät bewußt: Die Tatsache, dass ich innerhalb von zwei Jahren vierzig Zentimeter gewachsen war, machte mich damals Anfang der neunziger Jahre zu einem Wesen, das noch Arme und Beine sortierte, als die anderen schon mit den hübschen Jungs tanzten. Äußerst gerecht finde ich auch die Tatsache, dass meine Mutter wohl eine Affäre mit einem Yeti hatte, die sie mir bis heute verschweigt. Wie sonst ließe sich mein übernatürlich dichter Haarwuchs im Gesicht erklären, der mit viel Mühe zu etwas Augenbrauen-ähnlichen gezupft, gewaxt und gezogen wurde? Hey, ich will mich nicht beschweren, andere brauchen Augenbrauenstifte! Diese Ausgabe kann ich mir glatt sparen. Überhaupt, meine Haare: Die Exemplare, die ich auf dem Kopf habe, sind so eigenwillig, dass sie sogar einen eigenen Job haben.
Zum Stichwort Job: Ich finde es auch echt gerecht, dass ich nach dem prestigeträchtigen Studium der Politikwissenschaften einen absolut krisensicheren Job habe, der mir pro Monat Geld wie Heu einbringt. Und ich habe noch gar nicht erwähnt, dass ich mich innerhalb meiner Profession auf einen rekordverdächtig speziellen Spezialbereich spezialisiert habe, der mich zu einem hochdotierten, vielgefragten Experten macht, der ungefähr so selten anzutreffen ist wie schwule Friseure im Glockenbach-Viertel. Danke Schicksal, echt nett von Dir!
Bin ich eigentlich selbst gerecht, wenn ich hier mal ein wenig vor mich hinjammere? Gibt es in der Philosophie oder in den großen Weltreligionen Hinweise, die mich auf ewig aus der erlauchten Gruppe der Gerechten verbannen, wenn ich hier rumnöle wie ein altes Waschweib? Was ist eigentlich wirklich gerecht? Vielleicht hilft mir ja die Rekapitulation meiner eigenen Situation bei der Beantwortung der Frage.
Ende April wurde ich in das Büro des Personalchefs meines Ex-Arbeitgebers gerufen, wo mir meine schriftliche Kündigung ausgehändigt wurde. Als ich - es war gegen 10 Uhr morgens - so in diesem Erdgeschoßbüro stand, hatte ich erstens einen Mordskater, zweitens gerade eine Einladung zu einem Bewerbungsgespräch bekommen und drittens gelang es mir, meinen Fachabteilungsleiter während des ganzen Vorganges keines Blickes zu würdigen. Macht nach meinem Gerechtigkeitsempfinden 3:0 für mich: der Kater zeigte, dass ich noch nicht völlig vertrocknet und langweilig war, die Einladung zum Bewerbungsgespräch war für einen Abteilungsleiterposten und meinen Ex-Chef und sein seltsames Universum kann man am besten strafen, indem man es nicht beachtet.
Vielfach für ungerecht befunden wurde allerdings die Art und Weise, wie man mich aus dem Unternehmen befördert hat: keine Sozialauswahl, fadenscheinige Vorschübe in Richtung betriebsbedingter Personaleinsparung und als Krönung noch scheinheilige Auslassungen über die vermeintlich mangelhafte Qualität meiner Arbeit, die man auf Nachfrage auf meine (Zitat) "hohe Visibilität am Flur" oder auf meinen exorbitant hohen Redezeitanteil bei Meetings zurückführte. Das letzte Urteil wurde übrigens von einer Person gefällt, die sich bestens mit enorm hohen Redezeitanteilen auskennt. Ist das gerecht? Finde ich nicht. Und hier der aktuelle Zwischenstand: Ich 3, Schicksal 5! Danke! Bitte! Zur Halbzeit lag ich hinten, ich brauchte professionelle Hilfe.
In dieser Art Match kann man als Arbeitnehmer sein Team gottlob um beliebig viele Mitspieler erweitern und so wechselte ich als erstes zwei Betriebsräte ein. Herr H., ein älteres, berlinerndes Gewerkschaftsschlachtross und C., eine attraktive Mitt-Dreißigerin mit einem völlig faszinierenden Kleidungsstil übernahmen eigentlich das, was im übertragenen Sinne Trainer bei Boxkämpfen machen (und genau wie bei einem Boxkampf fühlte ich mich Ende April): Immer wenn ich in der Ecke des Ringes saß, gab´s Luft mit dem Handtuch, eine kleine Nackenmassage, einen Schluck Wasser und dann musste ich wieder zurück.
Das nächste Mal hob ich die Einwechseltafel, als R., ein Bekannter und von Beruf Anwalt, ins Match geschickt werden musste. (Und nein, ich finde es gar nicht ungerecht, dass R. wie alle anderen Vertreter seines Standes so viel Geld verdienen. Bescheiden wie ich bin, habe ich die Juristerei nur im Nebenfach studiert. Das genügte mir.) R. erhob Kündigungsschutzklage und das Match um Gerechtigkeit ging in die entscheidende Phase. Ich konnte mittlerweile wieder Boden gut machen, ich hatte, im Nachhinein betrachtet, Gleichstand erzielt. Jetzt galt es, den entscheidenden Anschlusstreffer zu machen, damit mir Gerechtigkeit wiederfahren möge.
Irgendwann im Kindergarten, vor allem wenn man wie ich in einer konfessionellen Einrichtung war, lernt man den schönen Spruch:"Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem andern zu." Jahre später diente mir dieser Sinnspruch als Eselsbrücke, um den kategorischen Imperativ von Immanuel Kant zum Verständnis vorzubereiten. Übrigens störte es mich damals in der Uni nicht im geringsten, dass gerade mir die Herleitung des kategorischen Imperativs als Referatsthema aufs Auge gedrückt wurde. Wer will schon verstehen, worüber er redet? Ich in diesem Fall wollte das doch gar nicht!
Der Königsberger stellte also vor ziemlich langer Zeit die Handlungsanweisung auf: "Handle stets so, dass die Maxime deines eigenen Handelns stets zum allgemeingültigen Gesetz werden könnte." Wenn man das tut, ist man ein gerechter Mensch. Sagt Kant. Nein, es nervt mich auch nicht, dass er das so kompliziert machen musste.
Vor einigen Wochen erreichte mich ein Anruf von R.. Wir hatten eine Einigung erzielt, sein letztes Gespräch mit Vertretern meines Ex-Arbeitgebers war positiv verlaufen. Wir konnten über Flanke spielen, R. war mein Stürmer und brachte uns mit dem entscheidenden Tor in Führung. Wir hatten uns Ziele gesetzt und diese hatten wir erreichen können. Ich bin jetzt zwar meinen alten Job los, meine Kündigung habe ich mir allerdings mit R.s Hilfe großzügig entlohnen lassen. Aber ist das denn jetzt gerecht im Kantschen Sinne? Oder eher ein moralphilosophischer Phyrrus-Sieg?
Momentan muss ich mich mit Geldanlage-Strategien beschäftigen und ich tue das wirklich gerne, weil ich das für ein wundervolles Luxus-Problem meinerseits halte. Weil ich mehr dem Urteil meiner Freunde und Bekannten vertraue als bunten Werbezetteln und vollmundigen Beteuerungen von Anlageberatern, habe ich vor kurzem nacheinander alle, dessen Rat ich benötigte, per SMS um Anlageempfehlungen gebeten: "Was würdet Ihr tun, wenn Ihr Betrag X zur Verfügung hättet und ihn anlegen könntet?" schickte ich in die Runde. Die originellste, witzigste und ehrlichste Antwort bei der aktuellen Zinslage kam von A.:"Ein neues ibook und vier Wochen Australien". Schmunzelnd las ich die SMS und mir wurde klar: Meine eigene Gerechtigkeitstheorie trifft in diesem Fall wohl am meisten zu: Wer selbst im Kantschen Sinne ein gerechter Mensch ist bekommt gutes Karma, wozu ich gute Freunde mit aufmunternden Mobilfunkbotschaften definitiv zählen möchte. Diejenigen, die Karma-Kant nicht ernst nehmen, wird irgendwann ihr gerechtes Schicksal ereilen. Und nein, es stört mich wirklich nicht, dass man sich dafür in Geduld üben muss.
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