Wer aufmerksam U- oder S-Bahn fährt, bekommt mit seinem Ticket auch eine aufregende Vorstellung geboten: Die Mitreisenden geben sich alle Mühe, ihr Entertainment-Programm dem geneigten Beobachter völlig kostenfrei anzubieten. Und dabei benötigt man gar nicht unbedingt Großereignisse wie den Ökumenischen Kirchentag. Aber unterhaltend sind diese trotzdem.
Der ÖKT, wie er mit dem Anschein von Fachsimpelei abgekürzt wurde, spülte eine Flut glücklicher Menschen nach München. Die Besucher des Kirchentages erweckten in mir persönlich den Eindruck, für sie sei die Fahrt nach München mit einer Reise nach Hawaii vergleichbar, die sie in einem Preisausschreiben gewonnen hatten. Die vielzitierte "Weltstadt mit Herz" platzte aus allen Nähten vor orange beschalten, selig lächelnden, manchmal etwas weggetretenen Christenmenschen.
Ich habe mich oft gefragt, welches Genie im Tourismusbüro den Slogan "Weltstadt mit Herz" erfunden hat. Für mich ist das Synonym für meine Heimatstadt ein herrlicher Euphemismus, der wahrscheinlich auch letzten Endes dafür gesorgt hat, dass München den ÖKT ausrichten durfte. Ich will hier keine Diskussion darüber beginnen, ob München tatsächlich eine Weltstadt ist. Meine Aufmerksamkeit gilt heute der vermeintlichen Herzlichkeit und der Frage, wie sie mit dem Münchner Grant vereinbar ist, der auch vor selig lächelnden ÖKT-Besuchern nicht halt macht.
Einen Tag vor Christi Himmelfahrt spuckte eine völlig überfüllte U2 eine Frau mittleren Alters, eine Gruppe Jugendlicher mit eindeutig norddeutschem Zungenschlag und mich auf den Bahnsteig am Sendlinger Tor. Das zügige Umsteigen in die U3 oder die U6 ist auch unter ganz normalen Umständen eine sportliche Leistung, die Planung, Disziplin und Reaktionsschnelligkeit erfordert. Besucher können das zügige Umsteigen erschweren. Kirchentagsbesucher können es unmöglich machen, wie sich schnell zeigen sollte.
Die Dame mittleren Alters und ich wussten: Wer Rolltreppen benutzen will, muss links gehen und rechts stehen. Die norddeutschen Jugendlichen standen links und versperrten so der Dame den Weg zu ihrem Anschlusszug. Lautstark versuchte erst sie und dann wir beide gemeinsam, die Jugendlichen um ein wenig Platz zu bitten, damit die Dame vorbei konnte. Doch unsere dialektgefärbten Anreden wurden nicht erhört. Erst ein deftiger Fluch zog die Aufmerksamkeit des ÖKT-Pulks auf sich. Im Nachhinein betrachtet ist es ja eigentlich völlig logisch, dass Kirchentags-Besucher auf "Kreizkruzifix!" reagieren. Die Dame, die vorbei wollte, nutzte die überraschte Stille für den schönen, lautstark vorgetragenen Satz : "Grüß Gott in München, bei uns werd grantelt!" Wer braucht da noch Kino, TV oder ein gutes Buch, wenn er stattdessen solche Szenen erleben darf?
Der Grant, oder auch hochdeutsch die schlechte Laune, erfasste beim Thema ÖKT auch einige Neu-Münchner aus meinem Bekanntenkreis. M., der eigentlich aus einem Nest aus der Gegend von Ulm stammt und der seit seinem Studium München mit seiner Anwesenheit beehrt, grantelte nach Ende des Kirchentages noch volle drei Tage lang. Denn vom 12. bis zum 16. Mai geriet er, immer wenn er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war, an verschiedene Gruppen von glücklich lächelnden, beseelten (siehe oben) ÖKT-Besuchern, die zum Klang von Gitarren erbauliche Lieder mit christlichem Inhalt sangen und ihn wohl oder übel zum Zuhören nötigten. Seine Übellaunigkeit, die wir Münchner hegen, pflegen und zu zelebrieren wissen, stand ihm bestens zu Gesicht und reinigte seine Seele.
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