Freitag, 16. April 2010

Die Kunst, in Massen zu verschwinden

Hätte mich einer meiner Lieblingsautoren, Haruki Murakami, letzte Woche während, vor und direkt nach meiner Arbeitszeit beobachtet, er hätte mich in eine Parallelwelt hinein geschrieben. Denn letzte Woche war ich beinahe verschwunden. Wer mich sieht, spricht mir sicher eine gewisse physische Präsenz zu. Die Frage lautet jetzt natürlich, wie ich das mit dem Verschwinden trotzdem bewerkstelligt habe. Nun, die Antwort hierauf ist eigentlich ganz einfach.
Der Profi-Pendler erkennt schnell, wie leicht man in einer großen Masse aufgehen kann. Stündlich ergießt sich an großen Umsteigebahnhöfen ein Menschen-Brei über die Rolltreppen und fließt zäh zwischen S- und U-Bahnen hin und her. Die Kunst ist es, sich dieser Masse bis zur Selbstaufgabe anzupassen; eins mit ihr zu werden wie eine kleine Makrele in einem großen Schwarm. Nützliche Hilfsmittel sind je nach Wetterlage Sonnenbrille oder schwarze Lederhandschuhe, weil sie Augen und Hände, also zwei wichtige, aussagekräftige Teilbereiche der physischen Identität eines jeden Menschen abdecken. Dazu noch ein ipod in die Ohren zum Sinnesverschluss und schon kann das Verschwinden für normale Menschen ohne besonders exaltierten Kleidungsstil oder hervorstechende, physische Merkmale beginnen.
Verschwundene Menschen sind nicht hilfreich, wenn Fakten geschaffen werden sollen, denn Leuten, die ganz eins sind mit ihrer Umgebung kann man nicht kündigen. In den letzten sieben Tagen, die vergangen waren, nachdem mir mein Chef eröffnet hatte, mir solle gekündigt werden, gelangen mir entscheidende Aufschübe. Denn auf einmal hat die Gegenseite keine festen Hebelpunkte mehr, die mich hinauskatapultieren sollen aus dem grauen Büro-Zweckbau im Münchner Umland. Doch dafür muss ich weiterhin samtpfotig verschwunden bleiben. Ein kurzes Aufblitzen meiner Konturen kann im Zweifelsfall ein sofortiges Entfernen bedeuten.

Freitag, 9. April 2010

Fast zwei Jahre Profi-Pendler

Heute früh um 08:50 Uhr habe ich wie fast jeden Tag in den letzten zwei Jahren am U-Bahnhof meines Wohnorts in München die Bahn bestiegen. Es war ein neues Modell, ganz in blau und mit laut trötendem Alarm, der immer dann ertönte, wenn die Automatenstimme "Zurückbleiben bitte!" geschnurrt hat. Um 08:57 Uhr bin ich aus dieser blauen U-Bahn ausgestiegen. Mein Blick fiel wie immer auf die Digitaluhr an meinem Umsteigebahnhof, denn wie immer bin ich in den letzten Wagen eingestiegen, um wie immer keine wertvolle Zeit zu verlieren, die mich davon abhalten könnte, die Anschluß-S-Bahn, die mich zu meinem Arbeitsplatz bringt, zu verpassen. Um ca. 15:30 Uhr hat mein Chef heute mein Büro betreten. Mein Arbeitsplatz ist in einem zweckbauartigem Bürogebäude einer Firmenzentrale im Münchner Umland. Die Teppiche sind grau und die Wände direkt neben der Damentoilette wurden erst vor kurzem frisch gestrichen. Ungefähr um 15:34 Uhr wußte ich, dass mir betriebsbedingt gekündigt wird.
Termin bei der Personalabteilung, Betriebsrat, Anruf bei meinem Lebensgefährten, SMS an meinen Freundeskreis - die nächsten Schritte erledigte ich so routiniert, wie ich jeden Morgen in den vergangenen Jahren die Haltestellen ansteuerte. Ich zähle mich selbst zu den emotionalen Bauchmenschen. Wenn sich Gefühle in mir regen, dann sind sie echt. Trauer-Tränen, weihnachtsartige Vorfreude oder Wut, die einen alles andere vergessen lässt: All das ist mir genauso zueigen und Teil von mir selbst wie die Farbe meiner Haare oder die Form meiner Nase. Um ziemlich genau 16:00 Uhr öffneten sich S-Bahn-Türen und ihre Hydraulik klang in meinen Ohren wie ein tiefer, stoßartiger Seufzer. Ich stieg ein und in mir begann sich eine weiche, flatternde Erleichterung breit zu machen. Um 16:26 Uhr stieg ich aus der S-Bahn und entschloß mich, ein kleines Stück bis zur nächsten Haltestelle zu laufen. Den ganzen Weg lang habe ich gegrinst wie frisch verliebt und hatte einen federnden Gang, den ich mit kleinen Hüpfern unterstrich.
Die unzähligen Fahrten vorher gab ich oft ein ganz anderes Bild ab: Müde, traurige Augen, die die Tränen manchmal nur mit Mühe zurückhalten konnten. Schmerzende, verspannte Schultern, die zu lange in Hab-Acht-Stellung am Computer angespannt waren. Eine Seele, die nach beruflicher Anerkennung gedürstet hatte wie ein Reisender in der Wüste. Und ein Kopf, der sich mit langen, endlosen Frageschleifen beschäftigte und zwar immer gerne dann, wenn man nicht mehr im Büro aber auch noch nicht ganz zuhause war. Woran liegt es, dass ich mich so unheimlich unwohl fühle? Habe ich bei dem Gespräch mit meinem Chef richtig reagiert oder müsste ich diplomatischer sein? Stelle ich zu hohe Ansprüche an das, was meinen Beruf darstellen soll? Die Fahrzeit, die ich werktäglich unterwegs bin, ergibt bei mir ziemlich genau sechzig Minuten quälendes Frage-Bombardement.
Aber vielleicht war ich ja genau am richtigen Ort; der öffentliche Personen-Nahverkehr ist bei genauer Betrachtung ein Transportmittel voller opernartiger, überkochender Emotionen. Schon mal die U6 aus Fröttmanning benutzt, nachdem TSV 1860 München ein Spiel gewonnen hatte? Schon mal bei der Haltestelle Flughafen München Besucherpark begonnen, in die Gesichter allein Reisender zu sehen? "Wann kommt denn endlich die S-Bahn?" oder "Ich muss echt rennen, sonst verpasse ich noch den Bus." sind nur zwei von unsagbar vielen, möglichen Gefühlsregungen, die ihren Platz tagtäglich im öffentlichen Personen-Nahverkehr finden. Und da gilt nicht nur für München, sondern auch für Berlin, Hamburg, Budapest, Paris, New York, Tokio ...