Montag, 2. August 2010

Die spätrömische Dekadenz ist tot

Immer wenn ich Archäologen kennen lerne, geht für mich ein kleines bisschen die Sonne auf. Ich kenne zwar nicht wirklich genug, um repräsentative Aussagen über diesen Berufsstand zu treffen, aber meine drei Referenz-Personen strahlen eine besondere Aura aus: Gebildet, belesen und herrlich un-trendy. Wenn andere sich Sorgen machen, dass sie mit Album-Downloads von Janellé Monaé im Auge des künstlich hochgejubelten Beliebigkeits-Massengeschmacks sind, gehen sie zu Händel-Festspielen. Während rund 90 % der deutschen Bevölkerung ihrer Nationalmannschaft in Südafrika stammesgleich bemalt und Vuvuzela-trötend beisteht, freuen sie sich darüber, wie ruhig es auf den Straßen ist und enttarnen sich wenig später durch selbstbewußt hervorgebrachte Kommentare, wie herzlich wenig sie von Fußball verstehen. Schnurz! Egal! Jacke wie Hose! Die dürfen das! Denn zu unzähligen Gelegenheiten haben die drei Referenz-Archäologen es schon großartig verstanden, ebenso großartige nahe- wie auch etwas ferner liegende Erkenntnisse zu verschaffen.
M. arbeitet gerade in Ägypten bei einer Ausgrabung mit und ist in unregelmäßigen Abständen hier in München. Er ist einige Jahre jünger als ich und strahlt trotzdem schon jetzt die ruhige Weisheit seines Berufsstandes aus. Wenn andere laut diskutierend gerade die Gruppenmeinung zum besten zu geben glauben oder besonders witzig und unterhaltsam sein wollen, habe ich M. schon oft dabei beobachtet, wie er die Disputanten einfach nur anguckt und mir vorgestellt, wie er sich in seinem geistigen Auge ein Gesamtbild von uns anfertigt, das, dem Da Vinci Fresko vom letzten Abendmahl nicht unähnlich, auf seine Art für die Ewigkeit Bestand haben soll. Manchmal platziert M. Wortmeldungen und die sind immer besonnen und wohlüberlegt. So zum Beispiel neulich, als wir hochemotional erst das fatale Volksbegehren zum Zigarettenrauch in öffentlichen Räumen erörterten und dann zu den Verfehlungen der Bundespolitik im Einzelnen kamen. Leider kommt man dabei nicht am amtierenden Außenminister vorbei, der die Würde seines Amtes komplett ignorierend, vor einiger Zeit mit dem entsetzlichen Ausspruch von der "spätrömischen Dekadenz" sich ins kollektive Gedächtnis gedrängt hat. M. repetierte daraufhin das, was wir alle schon in Geschichte gelernt, aber längst wieder vergessen hatten: In der spätrömischen Periode war das Christentum schon so weit im Römischen Reich verbreitet, dass von Dekadenz längst keine Rede mehr sein konnnte.
Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich mir hier noch mal die populistische Annahme des Herrn Westerwelle zur Brust nehmen und für alle, die es noch nicht selbst erfahren haben, den Umgang eines frisch gebackenen Arbeitslosen mit der eigenen finanziellen Situation so gut es mir möglich ist, beschreiben. Ich schränke deshalb meine Aussage ein, weil ich keine Kinder habe, keine langfristigen finanziellen Verpflichtungen wie Wohneigentum oder ähnliches zu bedienen habe, und ich im Vergleich zu vielen anderen Arbeitslosen früher wirklich gut verdient habe.
Am schlimmsten ist der Anfang. Ich hatte mein letztes Gehalt bezogen und wußte ungefähr sechs Wochen nicht, woher mein nächstes Geld kommen sollte. Wer wie ich auf Wiedereinstellung klagt, ist juristisch gesehen noch nicht ganz arbeitslos. Am Tag, als ich die Kündigung in der Hand hielt, musste ich mich trotzdem bei der Agentur für Arbeit melden und ein Prozess lief an, der mir eine Frist setzte, bis zu der mein Arbeitgeber die so genannte Arbeitsbescheinigung ausgefüllt an die Agentur für Arbeit übermittelt haben sollte. Tja, und mein Arbeitgeber ließ diese Frist erst mal prompt verstreichen. Ich selbst strich einstweilen meine Ausgaben rigoros zusammen:
Laufende Versicherungen kann man gewissermaßen einfrieren, Verträge kann man kündigen, Haushaltsgeld kann sehr stark gestreckt werden, doch irgendwann kam ich an den Punkt, wo es begann, wehzutun: Ich hatte mir bisher, egal wie meine finanzielle Situation war, immer die Mitgliedschaft für ein Fitness-Studio und ein Abonnement der Zeitschrift SPIEGEL geleistet. Mit einem Kloß im Hals entschloss ich mich, den Hamburgern meine Gefolgschaft aufzukündigen und beendete einen Vertrag, der schon seit meinem Grundstudium lief. (Den Vertrag für das Fitness-Studio ließ ich weiterlaufen, schließlich liegt dort unter anderem DER SPIEGEL aus). Ich ass nicht mehr auswärts, beim wenigen Weggehen gab´s nur noch hin und wieder ein Bier und wehmütig verkniff ich mir mein heißgeliebtes Kino.
Wie bereits mehrfach betont, sind meine Fragen hier echte Luxus-Probleme. Trotzdem ist es mir wichtig, an diesen Beispielen zu vermitteln, vor welchen finanziellen Fragen man auch als gut ausgebildete Fachkraft ohne Kinder und laufender Hypothek steht. Den Gürtel enger schnallen an sich ist für mich kein Problem, mein SPIEGEL-Abo zu kündigen, das mich so lange Jahre begleitet hatte, war machbar, aber schön ist echt anders, Herr Westerwelle! Und wenn mich Lusche schon mein SPIEGEL-Abo Herzblut kostet, wieviel Respekt muss man dann eigentlich zum Beispiel vor vielen alleinerziehenden Müttern auf Hartz IV haben, die es auch irgendwie schaffen, durch den Tag zu kommen? Vielleicht gibt´s ja irgendwo noch einen geheimen Sonderetat in der Schatulle des Guido W., denn ein solcher populistischer Blödsinn sollte ihn eigentlich Wiedergutmachung kosten. Das Geld könnte man bestens zum Beispiel für bezahlbare Kinderbetreuung nutzen, um bei den alleinerziehenden Müttern zu bleiben.
Am Ende wird, wie so oft, alles doch wieder gut. Ich bekam eine Mail aus Hamburg, in der mir ein lukratives Angebot von der Abteilung Kündigungsmanagement gemacht wurde, wenn ich mich gleich für einen neuen Vertrag entscheide. Das Abo ist tot, lang lebe das Abo! Ich weiß jetzt, welche Versicherungen eigentlich unnötig sind und gekündigt werden müssen. Und dieser Blog ist die letzte offizielle Verwendung der Wörter "spätrömisch" und "Dekadenz". Der Ausspruch wird hiermit für tot erklärt (Zeitpunkt des Todes 15:18 Uhr). In den diesjährigen Jahresrückblicken darf nochmal an sie erinnert werden.