Mittwoch, 26. Mai 2010

Buchstaben atmen

Beinahe zwei Jahre lang reiste mit mir ein Mischwesen aus Frau und Reh, das mich mit kugelrunden, braunen Augen ansah, wenn ich neben ihm stand. Eines Tages entdeckte ich im Gewühl beim Einsteigen einen Wolfsmann, weshalb ich mir ernsthaft Sorgen um die Rehfrau zu machen begann. Völlig unnötig, wie sich später herausstellte, denn die Rehfrau hatte ich nach einiger Zeit wieder regelmäßig gesehen. Der Wolfsmann hingegen blieb für immer verschwunden. Willkommen im öffentlichen Personennahverkehr! Für aufmerksame Beobachter beginnt hier eine fantastische Reise in fremde Welten. Vielleicht beginnt der U-Bahn-Fantasietrip mit einem guten Buch. Zumindest machen mir viele Mitreisende diesen Eindruck. Viele Menschen lesen in öffentlichen Verkehrsmitteln, als ob sie die Buchstaben atmen müssten. Dabei ist es völlig egal, woher sie ihren mehr oder weniger literarischen Sauerstoff herbekommen.
Am lustigsten sind die Romanleser. Manche Bücher fesseln ihre Konsumenten so, dass sie bei der Endhaltestelle nicht aufhören können. Dann steigen sie mit dem Buch vor der Nase auf den Bahnsteig und lesen einfach gehend weiter. Ich halte es in solchen Situationen für meine Chronisten-Pflicht, sich ereignende Unfälle, Stürze und Verletzungen zu dokumentieren. Aber irgendeine Macht leitet sie wohlbehalten an ihren Arbeitsplatz, wo die Romanleser wahrscheinlich in der Mittagspause sofort das Buch wieder zur Hand nehmen.
Aber auch Sportteile, Akten, Unterlagen und ganze Zeitungen werden aufgesogen. Ein interessanter Zeitvertreib beim U-Bahnfahren ist etwas, was ich hier "Lese-Hellsehen" nennen möchte. Sobald jemand im eigenen Sichtfeld beginnt, in mitgebrachten Taschen zu wühlen oder an Mänteln zu nesteln, muss der Lese-Hellseher vorhersagen, was die Testperson gleich lesen wird. Komischerweise bin ich bisher noch nie von meinen Testpersonen überrascht worden. Ich
hatte sowohl das Computer-Fachmagazin beim leicht übergewichtigen Nerd als auch die Klatschzeitschrift bei der Frau mit den Kunstnägeln schon vorausgeahnt. Wer jetzt einwendet, das sei ja auch keine Kunst, sollte sich in einer ruhigen Minute darüber Gedanken machen, wieviel Macht Vorurteile und Kategorie-Denken über die eigene Vorstellungswelt haben.
Der lesende Mensch hat in Bus und Bahn immer Dokumente zur eigenen Erbauung in der Hand, egal ob er sie im Moment langweilig oder interessant findet. Komischerweise konnte ich aber noch nie transzendentale Erbauungsliteratur finden. Liest jemand im Münchner Untergrund die Bibel? Steigt jemand in die Trambahn und blättert während der Fahrt im Koran? Ich kann mir nur vorstellen, dass die Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs ein zu trivialer Vorgang ist, um während dessen in so heiligen Büchern zu lesen. Allerdings schert sich Gott, Allah oder welchen Namen ihm die Menschen auch geben, auch sicher nicht um Trivialität.

Dienstag, 25. Mai 2010

Grüß Gott in München, bei uns wird gegrantelt!

Wer aufmerksam U- oder S-Bahn fährt, bekommt mit seinem Ticket auch eine aufregende Vorstellung geboten: Die Mitreisenden geben sich alle Mühe, ihr Entertainment-Programm dem geneigten Beobachter völlig kostenfrei anzubieten. Und dabei benötigt man gar nicht unbedingt Großereignisse wie den Ökumenischen Kirchentag. Aber unterhaltend sind diese trotzdem.
Der ÖKT, wie er mit dem Anschein von Fachsimpelei abgekürzt wurde, spülte eine Flut glücklicher Menschen nach München. Die Besucher des Kirchentages erweckten in mir persönlich den Eindruck, für sie sei die Fahrt nach München mit einer Reise nach Hawaii vergleichbar, die sie in einem Preisausschreiben gewonnen hatten. Die vielzitierte "Weltstadt mit Herz" platzte aus allen Nähten vor orange beschalten, selig lächelnden, manchmal etwas weggetretenen Christenmenschen.
Ich habe mich oft gefragt, welches Genie im Tourismusbüro den Slogan "Weltstadt mit Herz" erfunden hat. Für mich ist das Synonym für meine Heimatstadt ein herrlicher Euphemismus, der wahrscheinlich auch letzten Endes dafür gesorgt hat, dass München den ÖKT ausrichten durfte. Ich will hier keine Diskussion darüber beginnen, ob München tatsächlich eine Weltstadt ist. Meine Aufmerksamkeit gilt heute der vermeintlichen Herzlichkeit und der Frage, wie sie mit dem Münchner Grant vereinbar ist, der auch vor selig lächelnden ÖKT-Besuchern nicht halt macht.
Einen Tag vor Christi Himmelfahrt spuckte eine völlig überfüllte U2 eine Frau mittleren Alters, eine Gruppe Jugendlicher mit eindeutig norddeutschem Zungenschlag und mich auf den Bahnsteig am Sendlinger Tor. Das zügige Umsteigen in die U3 oder die U6 ist auch unter ganz normalen Umständen eine sportliche Leistung, die Planung, Disziplin und Reaktionsschnelligkeit erfordert. Besucher können das zügige Umsteigen erschweren. Kirchentagsbesucher können es unmöglich machen, wie sich schnell zeigen sollte.
Die Dame mittleren Alters und ich wussten: Wer Rolltreppen benutzen will, muss links gehen und rechts stehen. Die norddeutschen Jugendlichen standen links und versperrten so der Dame den Weg zu ihrem Anschlusszug. Lautstark versuchte erst sie und dann wir beide gemeinsam, die Jugendlichen um ein wenig Platz zu bitten, damit die Dame vorbei konnte. Doch unsere dialektgefärbten Anreden wurden nicht erhört. Erst ein deftiger Fluch zog die Aufmerksamkeit des ÖKT-Pulks auf sich. Im Nachhinein betrachtet ist es ja eigentlich völlig logisch, dass Kirchentags-Besucher auf "Kreizkruzifix!" reagieren. Die Dame, die vorbei wollte, nutzte die überraschte Stille für den schönen, lautstark vorgetragenen Satz : "Grüß Gott in München, bei uns werd grantelt!" Wer braucht da noch Kino, TV oder ein gutes Buch, wenn er stattdessen solche Szenen erleben darf?
Der Grant, oder auch hochdeutsch die schlechte Laune, erfasste beim Thema ÖKT auch einige Neu-Münchner aus meinem Bekanntenkreis. M., der eigentlich aus einem Nest aus der Gegend von Ulm stammt und der seit seinem Studium München mit seiner Anwesenheit beehrt, grantelte nach Ende des Kirchentages noch volle drei Tage lang. Denn vom 12. bis zum 16. Mai geriet er, immer wenn er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs war, an verschiedene Gruppen von glücklich lächelnden, beseelten (siehe oben) ÖKT-Besuchern, die zum Klang von Gitarren erbauliche Lieder mit christlichem Inhalt sangen und ihn wohl oder übel zum Zuhören nötigten. Seine Übellaunigkeit, die wir Münchner hegen, pflegen und zu zelebrieren wissen, stand ihm bestens zu Gesicht und reinigte seine Seele.

Sonntag, 9. Mai 2010

Work Limited Deluxe Edition

Neulich im Netz: ein großes Online-Handelsportal schickte mir die neuesten Musikempfehlungen per Mail. Meine Betreffzeile sah demnach so aus: "Get now: Work (Ltd. Deluxe Edition)" Ist natürlich in meiner Situation nicht ganz ohne Ironie. Allerdings könnte meine Erwerbszukunft ja durchaus im Netz liegen. Eine Akademie in meiner Heimatstadt München bildet Menschen wie mich zum Social Media Manager aus. Ich brauche nur noch jemanden, der mir die knapp 2.000 Euro Kursgebühr bezahlt. In meiner Zunft könnte sich eine Zusatzqualifikation als Social Media Manager also durchaus lohnen. Allerdings könnte ich auch ...
In Situationen wie diesen stehen mir eigentlich alle Möglichkeiten offen. Gleichzeitig habe ich keinen blassen Schimmer, wie es weitergehen soll. Als Statusmeldung, um bei der Netzanalogie zu bleiben, wäre also "irritierterfreut" oder "glücklichratlos" sehr passend. Es kostet allerdings sehr viel Überwindung, sich "irritierterfreut" im notwendigen und gleichzeitig völlig unnötigen Gespräch mit der Personalabteilung nicht anmerken zu lassen. "Glücklichratlos" durch das Arbeitsamt, Verzeihung - durch die Arbeitsagentur zu irren, ist auch nicht unbedingt zielführend.
Aber was sollte eigentlich zielführend sein im Jahr 2010? In den letzten zwei Jahren huschten morgens wie abends die Stein gewordenen Vorstadt-Träume an mir vorbei. Beziehungsweise das, was nach dem Kreditgespräch mit der Bank davon übrig blieb. Ich gehörte auch kurz zu denen, die kurz auf diese Stein-Träume zu hoffen und zu planen wagten und war mir vermeintlich auch schon im Klaren, wieviel Vorstadt für mich akzeptabel wäre. Die Realität ist gut motorisiert, so schnell wie sie einen einholen kann. Jetzt muss ich erstmal etwas finden, was für mich Lebensunterhalt, Berufung und Beruf gleichzeitig sein kann.
Ist eigentlich der Job des Stadt-Beobachters schon vergeben? Wenn nicht, möchte ich, wie es im schönsten Bewerberdeutsch heißt, "im Folgenden großes Interesse signalisieren". Denn wer mit offenen Augen und Notizheft in der Hand nur vom Marienplatz zum Stachus läuft, hat an guten Tagen schon Stoff für Romane. Und wer aufmerksam U- und S-Bahn fährt, erst recht.