Dienstag, 26. Oktober 2010

Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann

"Mitbürger, Freunde, Römer! Hört mich an." Heute muss mal eines der größten Genies der Weltliteratur für einen Einstieg herhalten - William Shakespeare. Ich verehre das Werk dieses Mannes mehr, als ich es hier schreiben kann. Was ist ein "Soll ich Dich denn einen Sommertag Dich nennen? Dich, der an Herrlichkeit ihn überglänzt?" gegen "Hallo, ich heiße K.. Bist Du noch Single?". Klar, ich sehe ein: Shakespeare ist nur bedingt ein Maßstab. Allerdings hat K. sich mir am späten Nachmittag auf der Straße im Regen, als ich mit meinem mit Einkäufen überladenem Fahrrad gerade nach Hause steuerte, auch nicht gerade den Oscar für besonderes Einfühlungsvermögen mit seiner Frage verdient. Meine Reaktion war ähnlich direkt, keineswegs lyrisch und auf keinen Fall gemein. Ich habe K. entgeistert angeguckt und danach angefangen, schallend zu lachen."Dem Mai will Sturm die Blütenpracht nicht gönnen. Und Sommers Herrschaft ist so eng begrenzt." , tröstet da der Dichter. Eine wunderschöne Art, sich außerdem über das miese, englische Wetter auszulassen.
Was mir Shakespeare aber richtig sympathisch macht, ist nicht etwa seine Art, Frauen um den Verstand und zu Lebzeiten höchstwahrscheinlich in sein Bett zu schreiben, sondern sein Gespür für gute Geschichten. Zwei Menschen, die sich über alles lieben, aber kein Paar werden können wie in "Romeo und Julia". Ein skrupelloses Paar, das sich an die Macht gemordet hat und später Gerechtigkeit erfährt sowie die schönste, poetischste und gruseligste Darstellung von Waschzwang in der Weltliteratur in "Macbeth". Oder eben die mikroskopisch genaue Beobachtung von sozialen Mechanismen, wenn es um die Beurteilung von Verdiensten bedeutender Menschen geht, wie in "Julius Cäsar", Mitbürger, Freunde, Römer. Gestern und heute, Arktis oder Feuerland - die richtig guten Geschichten der Menschheit werden immer mit den selben Grundelementen erzählt. Und da unterscheidet sich ein heute in der Hochkultur eingeordneter Shakespeare nicht von einem gut gemachten Kinofilm oder einem Groschenroman-Heftchen. Zu Lebzeiten hat der gute Herr nämlich Volkstheater geschrieben - oder sollte ich es lieber Unterschichtentheater nennen? Ein Imagewandel braucht manchmal einfach ein bißchen Zeit.
Das Stichwort Imagewandel bringt mich auch zu einer der atemberaubendsten Stellen in "Julius Cäsar". Ich habe das Drama zum ersten Mal mit Anfang zwanzig in einer Berliner WG-Küche in die Hände bekommen. Vor mir ein Glas billiger Rotwein, neben mir meine Gitarre spielende Mitbewohnerin und links von ihr ein persischer Bekannter, dem ich großartige Erkenntnisse zur morgenländischen Literatur verdanke. Wir haben uns gegenseitig aus verfügbaren Büchern Stellen vorgelesen, die wir schön fanden. Meine Mitbewohnerin drückte mir einen Shakespeare Sammelband in die Hand, in der Musik wäre das ein Best-of-Album, und meinte, ich sollte vorlesen. Und ich tat, wie mir geheißen, las die Rede des Antonius auf Cäsars Beerdigung und genoß die Gänsehaut, die mir dabei über die Arme lief.
Für alle, die das Drama nicht genau kennen, kommt hier eine grobe Zusammenfassung: Cäsar hat die Herrschaftsgrundsätze der römischen Republik außer Kraft gesetzt, sich zum Diktator auf Lebenszeit ernannt, was einem gewissen Brutus nicht passte. Pikanterweise ist dieser Brutus so etwas wie der Ziehsohn von Cäsar gewesen. Im Glauben an seine guten Ideen brachte Brutus Cäsar Mitte März zusammen mit seinen Mitverschwörern um. Als Cäsar seinen Ziehsohn in der Mördergruppe sah, sagt er die geflügelten Worte "Auch Du, Brutus?" und setzt sich angeblich nicht mehr gegen seine Häscher zur Wehr. Cäsar bekommt ein Staatsbegräbnis, Brutus betont zu jeder Gelegenheit, dass er einen machthungrigen Tyrannen umgebracht hat und gibt damit, zumindest laut Shakespeare, die herrschende, öffentliche Meinung vor. Nur einer, nämlich Cäsars Freund Antonius hegt seine Zweifel. Und ist mutig genug, sie auch öffentlich bei seiner Grabrede auf Cäsars Beerdigung kund zu tun. Das wiederum tut er ziemlich geschickt: Schritt für Schritt demontiert er Brutus genüsslich, betont aber immer wieder, wie sehr dieser im Recht sei, denn (Zitat) "Brutus ist ein ehrenwerter Mann".
Die Feststellung, dass ein Gentleman wie Brutus aufgrund seiner Ehrbarkeit gar nicht falsch liegen könne, wird im Laufe der Rede immer mehr zur Farce und hilft Antonius dabei, seinen Freund Cäsar wieder zumindest ein wenig ins rechte Licht zu rücken. Zuerst meint Antonius noch:"Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.", und konstatiert bald darauf ", was Menschen Übles tun, das überlebt sie". Cäsars Übel war - vor allem laut Brutus - seine Herrschsucht. Und Brutus ist ja bekanntlich ein ehrenwerter Mann. Deshalb will Antonius auch auf keinen Fall Brutus widerlegen. Um dann doch durch´s Hintertürchen seine Sicht der Dinge kund zu tun. "Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß." Und dieses Wissen ist eine sehr differenzierte, aber letztlich doch positive Darstellung des Ermordeten.
In Bewerbungsratgebern steht der gute und wichtige Hinweis, dass man auf keinen Fall über seinen ehemaligen Arbeitgeber schlecht reden sollte, wenn man beim Bewerbungsgespräch zum Beispiel nach Gründen für das eigene Ausscheiden gefragt wird. Und es kostet mich jedes Mal meinen Jahresvorrat an diplomatischen Verhalten, richtig zu reagieren. Gerade wird meine Geduld auf eine erneute, eisenharte Probe gestellt: Obwohl ich seit einigen Monaten nicht mehr dem Unternehmen angehöre, stellt mein Ex-Arbeitgeber mir kein Zeugnis aus. Dazu habe ich herausgefunden, dass mir die zustehenden, vermögenswirksamen Leistungen seit Mitte 2009 nicht gezahlt wurden. Dazu kommt, dass meinem ehemaligemChef trotz offenkundig dagegen sprechender Fakten das Kunststück gelang, relevante Stellen zu überzeugen, dass ich schlechte Arbeit leiste. Dieses Spiel gipfelte in der Feststellung, dass der Personalchef mir zwar die Tatsache bestätigte, dass mir aus betrieblichen Gründen gekündigt wird, mir aber dann gleichzeitig unterstellte (Zitat) "ein wenig verhaltensbedingte Gründe sind ja auch dabei." Wenn ich also irgendwann ein Zeugnis bekommen sollte, würde es mich sehr überraschen, wenn es gut oder sogar sehr gut ausgefallen ist. Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Gerade vollstreckt, also gewissermaßen erzwingt "mein" Anwalt R. für mich das Zeugnis vor dem Arbeitsgericht. Morgen muss ich einen Termin bei meiner Bank vereinbaren, um mich über die Details der fehlenden Zahlungseingänge kundig zu machen. Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Wenn ich dann das Zeugnis in den Händen halte, werde ich es einscannen, und mich zum Beispiel bei einer großen AG im Münchner Norden zu bewerben, die auf ihrer Homepage auf komplette Bewerbungsunterlagen bestehen. Und ich möchte nicht wissen, wie viele Absagen auf wirklich interessante Jobs ich bekommen habe, weil mein aktuelles Zeugnis noch nicht vorliegt. Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Ich will, was Brutus sagt, nicht widerlegen. Ich spreche nur von dem hier, was ich weiß. Was Menschen Übles tun, das überlebt sie.
Die Zeit ist also auf meiner Seite ...




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und Sommers Dem Mai will Sturm Herrschaft ist so eng begrenzt.
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und Sommers Herrschaft ist so eng begrenzt.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Sehr geehrter Herr Aufschwung,

mit großem Interesse habe ich erfahren, dass Sie nach Deutschland kommen. Da in den unterschiedlichen Medien Ihr Erscheinen angekündigt wurde, konnte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und möchte mich im Folgenden bei Ihnen umgehend als Pressesprecherin bewerben. Denn ich gehe davon aus, dass Sie eine erfahrene Fachkraft benötigen, die die unterschiedlichen Ankündigungsmeldungen für Sie koordiniert und mit größtmöglichem, positiven Effekt an die Presse bringt.
Ich bin 32 Jahre alt und seit mittlerweile über sechs Jahren im Kommunikationsgeschäft tätig. Meine Karriere als verwunderter Arbeitnehmer begann, als ich am 14. Februar 2003, dem Tag der Liebenden, meinen Universitätsabschluss erhielt. Ich hatte bisher alles so gemacht, wie es von mir erwartet wurde: Einen Einser-Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit erreicht, sechs Praktika, interessante Nebenjobs, ein Semester an einer interessanten Universität im Ausland studiert; damals sprach ich zwei Fremdsprachen wirklich passabel, eine weitere ganz gut und hatte nebenbei die Aufnahmeprüfung zur Journalistenschule beinahe geschafft. Gleichzeitig hatten an den Aktienmärkten der Welt sich Spekulanten an der Aufgabe übernommen, wilde Internet-Firmen mit halbseidenen Konzepten blind und abenteuerlustig zu finanzieren. Aus meiner Kindheit in den Achtzigern weiß ich, dass wir in unseren Kaufläden nicht so verdammt hirnlos waren.
Im Dezember 2003, also ganze zehn Monate später, wurde ich zum ersten Mal begeistert in den Räumen einer Firma als neuer Mitarbeiter begrüßt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits unzählige Bewerbungen an die unterschiedlichen Stellen geschrieben und einmal sogar eine Absage, die an einen HERRN M. adressiert war, erhalten. Wie Sie unschwer meinem beigefügten Lebenslauf entnehmen können, bin ich weiblichen Geschlechts. Trotzdem wurde mir im beigefügten Begleitschreiben versichert, man hätte meine Unterlagen (Zitat) "eingehend geprüft". Man nahm sich kurz vor dem Nikolaustag meiner an und fügte mich einem bis heute ständig anwachsenden Heer von Zeitarbeitnehmern hinzu: Jederzeit kündbar, jederzeit anders einsetzbar, mit weniger betrieblichen Mitbestimmungsrechten als Festangestellte. Wenn ich richtig informiert bin, hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, bei der ich übrigens Mitglied bin, mittlerweile in vielen Bereichen diesen Mißstand beseitigt. Mein Weg führte mich zu einem großen Autobauer, den ich kommunikativ zum Beispiel mit Newslettern und an einer eigens für Zuliefererbetriebe eingerichtete Hotline dabei unterstütze, die Wareneingangssoftware seiner Werke auf SAP umzustellen. Experten mit SAP-Zertifizierung hätten mich aus Mitleid zum Kaffee eingeladen, wenn sie erfahren hätten, wieviel ich verdiene, wenn ich ihren Job teilweise mit erledige. Aber: ich habe dort gelernt, komplexe Sachzusammenhänge einfach aufzubereiten und verzweifelten Zuliefererbetrieben, die von den Einkäufern des Autobauers schon wieder das Messer auf die Brust gesetzt bekommen haben, damit sie noch billiger produzieren lassen, die Anforderungen für die SAP Software verständlich darzustellen. Aber für mich zählte: Ich war drin, ich war endlich drin.
Sechs Monate später nach der dritten Projektverlängerung, die zuerst nicht sicher war, wechselte ich zu einem Fernsehsender, wo ich nach über einem Jahr Wartezeit endlich offiziell in meine Karriere als Pressefachkraft starten konnte. Ich erhielt einen befristeten Vertrag, verdiente netto so viel wie während meiner Zeit als HiWi eines schusseligen Professors. Nur war mein Dienst an der Wissenschaft ein Teilzeitjob, der sich auf fünfzehn Stunden belief. In meinem Arbeitsvertrag für das PR-Volontariat standen vierzig Stunden. In der Praxis arbeitete ich eine ganze Menge mehr.
Dann nach zwei Jahren die Premiere! Mein Vertrag wurde um weitere zwei Jahre verlängert, was vor mir noch nie einem Volontär gelang. Wie viele Schlachten dafür geschlagen wurden, können Sie sich nicht vorstellen! Ich hatte mittlerweile eine exzellente Ausbildung absolviert, ich wusste über alle Arbeitsvorgänge in der Abteilung bestens bescheid und wurde von allen Ecken und Enden mit Arbeit überhäuft. Aber ich beschwere mich keineswegs. Vorgesetzte und Kollegen waren wirklich sehr zufrieden mit mir. Nachträglich betrachtet war das die schönste Zeit meines bisherigen Erwerbslebens.
Als der Ablauf der zweiten Zwei-Jahres-Frist immer näher rückte, wollte ich einen endlich einen unbefristeten Vertrag haben. Wie heißt es so schön? Never change a winning team. Warum sollte man nicht wenigstens über meine Bitte nachdenken? Schließlich war man ja sehr zufrieden mit mir, wie man mir immer wieder versichert hatte. Und in anderen Abteilungen konnten befristete Verträge ebenfalls in Festanstellungen umgewandelt werden. Leider war mein Vorgesetzter plötzlich gar nicht mehr zufrieden mit meiner Arbeit. "Schließlich muss es doch einen Grund geben, warum Du nicht bleiben kannst." Unsagbar gekränkt suchte ich mir einen neuen Job. Mein Vorgesetzter wurde auch bald - wie heißt es so schön? - "im gegenseitigen, freundlichen Einvernehmen." an die frische Luft gesetzt, als sein drittes Kind gerade unterwegs war. Seit seinem Weggang frage ich mich, ob ich mein Talent zum Verfluchen in irgendeiner Weise zu Geld machen kann.
Die neue Möglichkeit kam grad zur rechten Zeit: Großes, prestigeträchtiges Unternehmen, viel Geld und viele Möglichkeiten, die ich für mich dort gesehen habe. Dass ich in der Vorhölle eines Professors für Arbeitsorganisationspsychologie gelandet war, konnte ich nicht ahnen. Mein ganzes Umfeld war zum Großteil damit beschäftigt, entweder unter Ablaufdefiziten zu leiden, selbst welche zu verursachen oder Beschäftigung vorzutäuschen. Aber am schlimmsten war das Einfügen in ein anderes Raum-Zeit-Verständnis: "Schnell!" hieß nicht "in spätestens einer halben Stunde" sondern "sogar noch innerhalb dieser Woche, wenn Du Glück hast." Meine Ideen zur Ausgestaltung dieser Stelle starben einen langen und qualvollen Tod. Als ich sie zu Grabe getragen hatte, drohte man mir zum ersten Mal mit Rauswurf. Wenige Monate später war es dann soweit. Und wieder versuchte ich es mit Verfluchen und Verwünschen mit bisher unbekanntem Ergebnis.
Ich würde für die Arbeit bei Ihnen, sehr geehrter Herr Aufschwung, umfassende Qualifikationen mitbringen: Ich beherrsche die PR-Klaviatur auf Konzert-Niveau, wie ich in mittlerweile über dreißig Bewerbungsschreiben immer wieder betont habe. Und vor allem bin ich lern- und arbeitswillig wie keine Zweite. Neue Branchen kennenlernen? Auch mal Überstunden schieben, damit das Projekt fertig wird und der Kunde zufrieden ist? Sie können, verehrter Herr Aufschwung, davon ausgehen, dass ich nichts lieber täte als das. Auch Abstriche beim Jahresgehalt machen mir nichts aus. Dafür lieber glücklich, erfüllt, mit Aufgabe.
Den Rest meines Lebenslaufs zieren die üblichen Wegmarken einer qualifizierten Arbeitskraft: Weiterbildungen mindestens einmal im Jahr, Englisch wie Deutsch auf einem hohen, meiner Tätigkeit aber angemessenem Standard. Gut vernetzt in der Medienszene und auch bei den technischen Entwicklungen und Möglichkeiten im Jahr 2010 auf dem neuesten Stand.
Ich würde mich sehr freuen, Sie in einem persönlichen Gespräch zeitnah kennenzulernen. Gerne kann ich Ihnen bei Interesse Terminvorschläge unterbreiten. Im Anhang finden Sie meinen Lebenslauf und Referenzkontakte. Einstweilen verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen

Dienstag, 12. Oktober 2010

Das Leben als TO DO Liste?

Ich finde, es ist höchste Zeit, F. ein Denkmal zu setzen. Ich kenne ihn seit bestimmt zehn Jahren. Von 2004 bis 2008 haben wir ein Büro geteilt und er hat mir eine ganze Menge über den Beruf, den ich heute theoretisch ausübe, beigebracht. Nur wer F. kennt, weiß, was das bedeutet: Die richtigen Fragen und Anmerkungen zur richtigen oder auch mal zur komplett falschen Zeit. Diamantenhart geschliffene Sprachkritik. Immer auf der Suche nach den Absurditäten des Alltags (und der ist weiß Gott voll davon!). Ein Leben in Film-und TV-Universen. Und wenn er lacht, was absurderweise total hell und kichernd klingt, kommen ihm sehr schnell die Tränen. Irgendwann hatte ich beschlossen, F. mit dem chinesischen Titel "Shi Fu" zu versehen. Die deutsche Übersetzung hierfür lautet "Meister", was ich wiederum aus einem zweitklassigen Hongkong-Actionfilm weiß. Allerdings kann für F. auch nur ein zweitklassiger Hongkong-Actioner für Ehrentitel in Frage kommen. Und das ist, wenn man F. kennt, ein Kompliment.
Uns ist es gelungen, unsere Freundschaft auch nach 2008 zu pflegen. Und so saßen wir eines Abends in einem Irish Pub und lösten dort ein Pub Quiz. Das ist ein etwas absurder Brauch aus dem englisch-irischen Raum, bei dem der Wirt einer Kneipe in verschiedenen Runden Fragen beantworten lässt. Das Team mit den meisten richtigen Antworten gewinnt. Was weiß ich nicht, F. und ich haben noch nie gewonnen. Ohne F. würde ich auch hier in Deutschland an keinem Pub Quiz teilnehmen.
F. beobachtet sich und seine Umwelt zu jeder Tages- und Nachtzeit sehr ausführlich. Und so kam es zu einem sehr treffenden Kommentar zu seinem aktuellen Äußeren. F., mittlerweile Anfang vierzig, hatte schon früh fast weiße Haare bekommen. Jetzt sind sie so lang, dass er sie sich im Nacken zusammen binden kann. Diesen Umstand kommentierte er etwas ironisch mit "Na endlich werde ich mein eigenes Klischee! Ein grauer langer Zopf ist etwas, was ich in meinem Leben dringend erreichen wollte."
Schnitt, Rückblende. Einige Monate vor dieser Begebenheit war ich mit meiner Freundin C. in der Lach- und Schießgesellschaft. Dort trat der Kabarettist Claus von Wagner auf. C. und ich haben zusammen mit Claus studiert und wie viele unserer Kommilitonen hat er schon eine eindrucksvolle Karriere hingelegt: Nach unserem nicht gerade vordergründig karriereträchtigen Studium war seine Entscheidung, politischer Kabaretist zu werden, sehr sinnvoll, wie ich finde. Claus reiht sich damit in die Reihe meiner mehr oder weniger berühmten und umtriebigen Kommilitonen ein. Ich kenne Schweden-Korrespondenten und Pressesprecherinnen, weibliche Regierungsräte und Magazin-Entwickler, deren Interviews ich interessiert lese. Mehr und mehr gleichaltrige Bekannte bekommen Kinder. Und ich stehe arbeitslos mittendrin, gucke mir das Treiben kritisch an und frage mich, wie meine Komilitonen wohl an ihr Leben rangehen, wie ich das gestalten soll und ob es so etwas wie ein Geheimrezept dafür gibt.
Abi - erledigt. Studium mit Einser-Durchschnitt - fertig. Karrierestart - letztendlich habe ich einen ganz brauchbaren hingelegt. Und jetzt? Welche biographischen Pflichtstationen muss ich jetzt abarbeiten? Wird jetzt von mir erwartet, dass ich zwei schnuckelige Zwerge in die Welt setze und dann zur Kinder-und-Karriere Mutter werde? Muss ich jetzt ins Vorort-Häuschen aus der Fernsehwerbung? Oder kommt jetzt (endlich?) der große Karriere-Durchbruch? Die eigene Firma? Die Abteilungsleitung? Und was passiert, wenn man diese biographische TO DO-Liste abgearbeitet hat? Nichts mehr oder kommt dann die Belohnung für den Lebens-Fleiß? F. würde mich jetzt erstmal für eine unzulässige Anglizismus-Verwendung maßregeln und irgendwas in Richtung "TO DO-Liste? Wie würde das denn auf Deutsch heißen? Gibt es dafür überhaupt noch ein einziges deutsches Wort? " fragen.
Nein, F., mir fällt zumindest grad keines ein. Das ist auch nicht schlimm, denn ich möchte bei der Vorstellung, meine Lebensstationen abzuarbeiten, am liebsten wegrennen. Dann lieber sein eigenes Klischee werden wie F.! Ich bin neun Jahre jünger als er. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.