Montag, 7. Juni 2010

Erwerbsbiographien und andere Schätze

Mich faszinieren einzelne Wörter. Ich kann mich an "Humbug" ergötzen, an "Sperrklausel" erfreuen und ständig finde ich neue, verbale Schätze. Mein neuestes Juwel ist "Erwerbsbiographie".
Eine große Gruppe Menschen, die ihr Selbstbewußtsein auf dem Treibsand ihrer Minderwertigkeitskomplexe gebaut haben, stellen ihr Berufsleben großspurig in so genannten CVs dar. Immer wenn ich solchen Menschen begegne, reizt es mich, sie zu fragen, ob sie wüssten, wofür die Abkürzung CV steht. Die Ausfallquote bei dieser Antwort ist wahrscheinlich erschreckend hoch. Schließlich kann ja nicht jeder von Anglizismen ("Si Wi") auf das lateinische Curriculum Vitae schließen. Dann doch lieber das hübsche, deutsche "Lebenslauf" - der Lauf des Lebens mit nur und ausschließlich erwerbsrelevanten Eckdaten auf wenigen Seiten Papier! Die erschreckende Dimension dieses Umstandes mit der ganzen Wucht ihrer Bedeutungstiefe muss man ganz langsam und mit aller Macht auf sich einwirken lassen. Hiermit plädiere ich dafür, die wichtigsten Eckdaten wie die Geburt des ersten Kindes aus dem Nicht-Erwerbsleben in einen konsequent geführten Lebenslauf aufnehmen zu dürfen!
Und hier die heutige Ausgangsfrage: Welche Bedeutung hat Erwerbsarbeit für den einzelnen Menschen? Viele, zu viele nehmen sich an dieser Stelle das Lebenslauf-Konzept zu Herzen: Das eigene Leben wird zur Anhäufung erwerbsrelevanter Eckdaten. Zu viel Zeit wird mit CV-Tuning und zu wenig mit echter Sinn-Suche verbracht. Und so kommt es, dass viel zu viele gescheiterte Lebensläufe im Alkohol, in der Depression oder im Selbstmord enden. Denn alles auf eine Karte zu setzen, geht nur im Film gut aus.
Dann doch lieber die Erwerbsbiographie. Meine Fantasie sendet mir bei diesem wunderschönen Wort folgenden Kurzfilm an mein inneres Auge:
Ich sitze, biblisch alt und mit einer sorgsam gepflegten, exzentrischen Schrulle in meinem Wohnzimmer, in dem ein überbordendes Bücherregal steht. Zwei Bücher in diesem Sammelsurium behandeln mich, denn ich habe bis dahin einen Weg gefunden, mir zwangsweise irgendeine, in Buchform gegossene Bedeutung zuzumessen. Buch eins ist meine Biographie. Früher durften nur große Menschen ab einem gewissen Alter eine Biographie verfassen. Heute gibt es schon Lebensbücher über 19jährige. Warum also soll in meinem Kurzfilm in der Zukunft auch nicht meine eigene Biographie vorkommen? Daneben steht ein Buch mit dem Aufdruck "Meine Erwerbsbiographie"; die meinen beruflichen Werdegang von den Anfängen bis zum meinem 95-jährigen Eintritt ins gesetzliche Rentenalter beschreibt. Bis dahin werde ich in meiner Fantasie übrigens die Stellung einer Art Noelle-Neumann für arme Leute in meiner Zunft eingenommen haben; eine schlechte Kopie des Originals, aber meine Kamerastatements werden lustiger.
Ich kann, werde und will heute nicht die Frage beantworten, welche Bedeutung Erwerbsarbeit für mein Leben hat. Obwohl das Fehlen derselben gut auf die Antwort hinführen könnte. Ohne Erwerbsarbeit hat man im schlechtesten Fall kein Einkommen zur Sicherung seines Lebensunterhalts. Also ist Erwerbsarbeit erstens Existenzsicherung. Aber was ist sie darüber hinaus? Ich erinnere mich noch gut, was sie bis ungefähr ins Jahr vier meiner Berufstätigen-Karriere bedeutet hat: Spaß, intellektuelle Inspiration und Erfolg. Ich spürte ein loderndes Feuer in mir und meine Anstellung war wie ein Blasebalg, der das Feuer immer und immer wieder anfachte. Schlußendlich entschied man sich dafür, dass ich zu Dingen, die ich gut und gerne hätte lernen können, nicht befähigt wäre. Meinen Platz nahm jemand ein, der ein Vielfaches mehr lernen musste. Ob er loderte, ist nicht überliefert.

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