Donnerstag, 8. Juli 2010

Aristoteles, es reicht langsam!

Alle großen Weltreligionen wollen uns auf ihre Art ihr Konzept vom großen Glück erklären. Der Christenmensch findet sein Glück, indem er sich an der Selbstlosigkeit Jesu Christi orientiert. Der ernsthafte Buddhist nimmt das mit der -losigkeit gleich auf mehrfache Weise ernst und bringt uns zum Beispiel Emotions- und Bedürfnislosigkeit nahe. Laut Aristoteles, um jetzt mal zu den Philosophen zu schwenken, liegt das Glück des Menschen nicht in der Erfüllung seiner inneren und äußeren Bedürfnisse, sondern in der möglichst korrekten Ausübung einer praktischen oder theoretischen Vernunftstätigkeit eingebettet in seine Menschengemeinschaft. Er hat also ziemlich gut erklärt, warum es Menschen in wohlhabenden Konsumgesellschaften schlecht gehen kann; wenn jemand reich ist und trotzdem kreuzunglücklich.
Mein Aristoteles stört seit heute mittag mal wieder meinen persönlichen Buddha bei der Erlangung allumfassender -losigkeit. Ich wollte dieses besondere Ziel heute mal anpacken und mit Bewegungslosigkeit auf dem Liegestuhl anfangen. Immerhin habe ich zwei Stunden durchgehalten, die aber für den indischen Religions-Prinzen wahrscheinlich nicht zählen, denn ich hörte Musik und las die Zeitschrift NEON. Das Wetter war herrlich. Der alte Grieche zwang mich dazu, wenigstens die Wohnung zu staubsaugen. In einer halben Stunde gehe ich mit Ari, wie ich ihn manchmal nennen darf, einkaufen. Mein rechtes Knie schmerzt, weil ich Aristoteles zuliebe es für praktische Vernunftstätigkeit gehalten habe, so lange zu trainieren, bis ich 10 km in angemessener Zeit laufe. Die Liste der theoretischen Tätigkeiten wird auch immer länger: bezahlbare Fortbildungen suchen, Steuererklärung für 2009 machen, Bewerbungen schreiben, meine Fremdsprachenkenntnisse aufpolieren und, und, und. Wenn ich ehrlich bin, schaffe ich es nie ganz, ihm meinen ganzen Widerstand entgegen zu setzen. Auch wenn ich, seit ich denken kann, bisher schon ganz viel versucht habe.
Nach dem Abitur haben viele meiner Klassenkameraden erstmal den Sommer genossen. Ich habe beinahe ohne Übergang mein erstes Praktikum in einer Zeitschriftenredaktion absolviert. In den Semesterferien habe ich gearbeitet. Nach meinem Uni-Abschluss hatte ich mal für ungefähr sechs Woche weder Beschäftigung noch irgendeine Perspektive. Den depressiven Schub konnte ich ohne schwere Medikamente in den Griff bekommen. Als der Wechsel zwischen meinem vorletzten und meinem letzten Arbeitgeber anstand, habe ich mir meinen Resturlaub auszahlen lassen und bin übergangslos in die neue Firma gewechselt. Aristoteles, jetzt mal ehrlich: Es reicht langsam! Meine Arbeits-Losigkeit sichert mir meine existentiellen Grundbedürfnisse. Ich habe die Zeit, auch mal für eine Stunde länger als ursprünglich geplant, ein Buch zu lesen. Ich könnte mir die freie Zeit wirklich sehr angenehm gestalten. Stattdessen gebe ich ihm viel zu leicht nach. Denn auch wenn mir schwer fällt, das jetzt zu schreiben: Der Alte hat leider Recht! Wenn die Ausübung einer Vernunftstätigkeit fehlt, kommt auch ein Stück vom Glück abhanden. Dann ergeht es Menschen im schlimmsten Fall wie meiner Freundin V.. Eine Aufgabe zu haben, bringt Menschen wie T. oder A. oder viele andere in ungeahnte Sphären des Glücksempfindens. So auch mich. Nach jahrelanger inspirationsloser Blockade, für die ich wenigstens noch bezahlt wurde, kann ich jetzt langsam wieder bei vielen Möglichkeiten das Glück empfinden, meinen erlernten Beruf anwenden zu können. Mal sehen, was da noch kommt. Ich bin gespannt.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen