Montag, 12. Juli 2010

Aus der Sonne!

Sie waren zu sechst, sie trugen Springer-Stiefel, gelbe Iros, karierte Miniröcke - Punk-Outfit total eben. Alle miteinander fläzten sich auf die Sitze in der U-Bahn, ihre Bierrülpser unterdrückten sie nicht. Der mitgebrachte Ghetto-Blaster war so laut, dass wirklich alle, auch die manchmal selig lächelnden alleinreisenden Alten im gesamten U-Bahn-Waggon etwas davon hatten.
Welche Reaktion auf ihre Mitreisenden wäre jetzt von dieser Truppe zu erwarten? Das Gehirn eines Menschen kann blitzschnell auf neue Situationen eingehen, indem es in Millisekunden die einströmenden Eindrücke mit bereits bekannten Erfahrungen vergleicht. Ich dachte also daran, gleich einen "Strassenfeger" angeboten zu bekommen - doch halt! - die Zeitschrift gibt es ja in München nicht. "Haste´n bisschen Kleingeld?" war die Mutter aller Klischee-Fragen, die ich nach abgeschlossenen Lokalisierungsgedanken ("Strassenfeger gibt´s nur in Berlin. Hier ist München") als nächstes meinen Protagonisten in den Mund geschoben hätte. Doch ich bin nicht Regisseur, sondern Chronist. Und außerdem blieb die bunte Truppe sitzen und stieg nicht am Sendlinger Tor aus, den ich für die angesagteste Schnorrer-Location halte. Weil sie so garnicht zu meinen Klischees, Vorurteilen und Annahmen passen wollten, wurden die Punks immer interessanter für mich. Ich stellte mich also in Hörweite und kam gerade recht, als ein Mädchen, das eine Hälfte ihres Kopfes vollkommen kahlrasiert und die Haare auf der anderen Seite lang trug, sagte: "Und wenn ich dann das Abi habe, kack ich denen auf den Tisch!"
Warum sie die Erlangung der Hochschulreife zu Protestzwecken nutzen wollte, die schon vor über vierzig Jahren bei Richtertischen angewendet wurden, erschloss sich mir zwar nicht direkt sofort. Allerdings beruhigte mich, dass der Spruch "Punk´s not dead, it just looks different." immer noch gilt. Exzentrik, Anderssein hat schon immer provoziert. Und obwohl wir eigentlich seit den neunziger Jahren in "Anything goes"-Zeiten leben (wie sonst hätten wir Musikrichtungen wie Eurodance ertragen?), ist vielleicht ein Punk-Mädchen mit Hochschulreife immer noch ein klein wenig Provokation. Hoffentlich schreibt sie sich nach ihrem Abitur an der Uni für Neueste Geschichte ein und promoviert über "Protestmethoden 68 - vom Terz zum Terror" oder ähnlichem. Mit einer insgeheimen Bewunderung für ihre Exzentrik stieg ich an meiner Heimathaltestelle aus dem Waggon. Auch mir fallen mindestens zwei Menschen ein, denen ich 2010 am liebsten auf den Tisch gekackt hätte. Alternativ hätte es auch ein "Halt´s Maul, Du dummes Arschloch!" in unglaublicher Lautstärke getan.
Aber ob zur Seelenreinigung oder zur Manifestation des eigenen Individualismus: Man muss weder Menschen beschimpfen noch Tische besudeln, um exzentrisch zu sein. Eine meiner Lieblingsfiguren aus der Geschichte des antiken Griechenlands, der Philosoph Diogenes von Sinope, hat das bewiesen. Dazu kann man an ihm noch einen wichtigen Zusatz nachweisen: Der Exzentrische pflegt seine Exzentrik immer aus dem tiefen Wunsch heraus, seine Umwelt nach eigenen Wünschen zu gestalten, um sich selbst treu bleiben zu können. Wie viel öffentliche Verwunderung es doch kosten möge.
Wie verschroben Diogenes wirklich war, können wir nicht mehr feststellen. Aber sein Image und die ihm zugeschriebenen Anekdoten haben die Jahrtausende überdauert. Ob mit Laterne auf dem Marktplatz oder im Zwiegespräch mit Alexander dem Großen, Diogenes zog nicht nur sein Ding durch, sondern begründete auch - quasi nebenbei - daraus eine philosophische Stilrichtung; die Kyniker. Und so tröste ich Exzentrik-Bewunderin mich mit einer ganzen Reihe von Erkenntnissen für meine aktuelle Situation, wenn mich nicht gerade die Verzweiflung aber doch die Nachdenklichkeit packt:
Erstens kann Arbeitslosigkeit Provokation sein. Ich konnte den gebremsten Menschenschlag, der immer nur Erwartungen erfüllt hat, noch nie wirklich leiden. Gerade bei ihnen findet man aber viele Exemplare, die es beruflich weit gebracht haben. Wie viel Freude es mir macht, solchen Leuten auf die Frage "Und, was machst Du so beruflich?" "Ich? Nix." zu antworten, kann man sich vorstellen. Die ratlosen Gesichter danach sind ein einziger Genuss.
Zweitens ermahnt Arbeitslosigkeit zu Bedürfnislosigkeit und Autarkie. ALG I, wie es so schön im Beamtendeutsch heißt, bezieht man für ein Kalenderjahr. Spätestens dann muss man seine eigenen Dinge geregelt haben. Und die Tatsache, dass man eben nicht seinen vollen, letzten Lohn bezieht, erzieht zu Bedürfnislosigkeit oder viel eher zu einem gesunden Maß von Wünschen und Warten. Denn meine jetzigen Bezüge sind so hoch wie der HartzIV-Regelsatz für eine vierköpfige Familie - warum sollte ich mich dann beschweren? Bleibt noch die freie Rede und der Kosmopolitismus für die Vervollkommnung der Ideale des Diogenes. Beide Punkte kann ich auch erfüllen: Gestern habe ich als EU-Bürgerin und Kosmopolitin der spanischen Fußball-Nationalmannschaft die Daumen gedrückt, obwohl sie das deutsche Team besiegt haben. Und die freie Rede konnte ich erst vor einigen Wochen in einem Rhetorikkurs üben. Genug gesagt, jetzt geht mir bitte ein wenig aus der Sonne!

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