Sonntag, 19. September 2010

Zeitnutzungs-Sphären und eine Woche voller Sonntage

Letzten Freitag hat mein Freund früher Feierabend gemacht. Und weil unsere Stehlampe im Wohnzimmer schon seit Ewigkeiten kaputt war, schlug er vor, wir sollten doch die Gelegenheit nutzen, um mal zu IKEA zu fahren und eine neue Lampe zu kaufen. Unser Modell war nicht mehr vorrätig, aber wir besitzen jetzt ein hübsches Dekokissen für unser Sofa. Nach unserer Fahrt ins Münchner Umland mussten noch Lebensmittel für´s Abendessen eingekauft werden. Alles was wir uns an diesem Freitag vorgenommen hatten, konnten wir auch erledigen (und mittlerweile steht eine viel hübschere Stehlampe in unserem Wohnzimmer und aus Schweden ist sie auch nicht). Außerdem bin ich auch noch um eine sehr wichtige Erkenntnis reicher, die mich an diesem Freitag allerdings sehr erschreckt hat. Ich bin nämlich mittlerweile in einer anderen, viel langsameren Zeitnutzungs-Sphäre angekommen wie der Mann an meiner Seite.
Wie bereits erwähnt ist mein Freund ein ehemaliger Kollege, in den ich mich verliebt habe. Wir hatten sogar in der selben Abteilung gearbeitet und in Grundzügen unterschieden sich ungefähr zwei Drittel unserer Aufgabenbereiche gar nicht voneinander. Wir waren bzw. er ist bis heute in einem Münchner Medienunternehmen beschäftigt, in dem man wirklich viel Arbeit in kürzester Zeit erledigen muss. Dieser positive Stress, alles zack!zack! wegschaffen zu müssen lag mir sehr und passte gut zu meiner von Grund auf faulen, aufschiebenden Persönlichkeit. Dann wechselte ich zu meinem letzten Arbeitgeber und erlebte das komplette Gegenteil: Von "schnell!schnell!" und "zack!zack!" musste ich mich schmerzvoll verabschieden. Stattdessen sollte meine Hauptbeschäftigung wohl daran bestehen, Arbeitsbelastung vorzugeben. Weil mir das nicht liegt, litt zwei Jahre Höllenqualen, weil ich chronisch unterbeschäftigt war. Am 17. Mai habe ich zum letzten Mal ein Büro betreten. Seit dieser Zeit hatte ich im Grunde schon immer zumindest ein bißchen was zu tun. Ich treibe bis zu fünf Mal die Woche Sport, erledige Hausarbeiten, kümmere mich um Papierkram, poliere meine Fremdsprachen auf, studiere sehr ausführlich online und offline Stellenbörsen und bewerbe mich dementsprechend. Ich probiere viele neue Rezepte aus, arbeite seit neuestem auch ein wenig als eine Art unbezahlte Teilzeit-Praktikantin in einem spannenden Projekt. Aber das Grundproblem ist: Was hier nach viel klingt ist allerdings viel zu wenig, um es in eine Woche zu packen. Die Physiker sagen, Zeit kann sich ausdehnen, ich sage, auch zu erledigende Tätigkeiten können und sollten das. Denn die Zeit, die man übrig hat, wenn man alles erledigt hat, wird schnell zu einem sehr hinterlistigen Gegner.
Vor einiger Zeit gab es einen sehr differenziert geschriebenen Artikel im SPIEGEL. Ich persönlich mag es sehr, wenn dem weit verbreiteten "Sowohl als auch" auf dieser Welt anständig Rechnung getragen wird und dieser Artikel hat dieses Kunststück geschafft. In dem besagten Stück ging es um das Thema Arbeitslosigkeit. Und dem Autor (oder der Autorin? Ich weiß es nicht mehr!) gelang das Kunststück, zwei sehr exemplarische Fälle sehr kunstvoll miteinander zu verbinden. Die eine Beispielsperson kostete die ihr vom Gesetzgeber zugestandenen Rechte voll aus. Die andere versuchte ständig zu arbeiten, aber es klappte nie so richtig und sie war gefangen im "Arm trotz Arbeit"-Universum. Letztgenannte Person wurde mit einem unheimlich treffenden Satz zitiert. Sie hätte sich während ihrer Arbeitslosigkeit gefühlt, als sei ständig Sonntag. Die Kinder waren in der Schule und um 10 Uhr morgens war der Haushalt so weit erledigt, dass sie den ganzen Tag für sich hatte. Schöne Vorstellung, wenn man dieses Gefühl sehnsuchtsvoll in stressigen Situationen vermisst. Nur eine Überdosis davon, eine Woche, einen Monat, ein Quartal oder sogar mehr voller Sonntage macht irgendwann einfach krank im Kopf.
Ich persönlich lernte früh, anstehende Tätigkeiten zu dehnen, zu ziehen und zu strecken und ich bin mittlerweile froh, dass ich bei meinem letzten Arbeitgeber eine Art bezahltes Trainingscamp absolvieren durfte, in denen ich von meinem extrem hohen Erledigungs-Level in einem Medienbetrieb auf mein extrem niedriges Level langsam und bei vollem Lohnausgleich hinunterreduziert wurde. In mikroskopisch kleinen Schritten verlangsamte sich im Laufe der Jahre mein ganzes Sein, bis es dann irgendwann auf einer anderen Zeitschiene wie das meines Freundes ablief, was mir beim oben genannten IKEA-Besuch eindrucksvoll vor Augen geführt wurde. Mittlerweile, im dritten Monat Arbeitslosigkeit ist die freie Zeit zu meinem Feind geworden. Ganz egal, was ich tue, sie ist immer stärker und mächtiger als ich.
Mein Sportprogramm ist mein erster Anker, der mich oft in den Tag hineinziehen kann. Denn wenn ich nach dem Frühstück zum Beispiel erstmal mein Lauftraining absolvieren kann, habe ich vor dem Mittagessen schon etwas geschafft. Danach geht es darum, die anstehenden Erledigungen abzuarbeiten - eigentlich gar nicht so schwer. Ich hatte mir früher in Zeitnot oft gewünscht, jedem meiner TO-DO-Punkte ein bißchen mehr Aufmerksamkeit widmen zu können. Mittlerweile hat sich das ins Gegenteil verkehrt: Ich hasse sie! Jeder einzelne Punkt geht mir nur auf die Nerven!
Wenn ich einkaufen muss, hetze ich nicht kurz vor Feierabend in den Supermarkt, sondern muss schon den Weg dorthin künstlich verlängern. Deshalb schlendere ich und mein Freund rennt. Ich zähle schon nicht mehr nach, wie oft ich am Computer mein Mailprogramm oder Facebook aufrufe, es würde mich nur unnötig frustrieren. Am allerschlimmsten sind die Tage, in denen ich nicht um acht aus dem Bett komme. Warum sollte ich überhaupt aufstehen? Wen interessiert es, ob ich bis mittags im Bett bleibe? Wen interessiert es, ob ich überhaupt irgendwas in den vor mir liegenden Stunden erledigt habe? Die wenigen Punkte, mit denen man seinen Tag verbringen könnte, bleiben auch liegen. Denn, wen interessiert es, ob ich heute oder morgen die schmutzigen Fenster putze, heute oder morgen den wichtigen Anruf erledige und so weiter und so weiter ...
Meine Erkenntnis, die ich hier gewonnen habe? Unterforderung ist Folter und eine passende Beschäftigung gibt den Menschen Würde. Mit angespannten, blank gescheuerten Nerven warte ich, was noch kommt. Einstweilen vergeht die Zeit.

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