Dienstag, 2. November 2010

Der Papa wird´s schon richten

Musikalisch waren die Fronten während meiner Kindheit in den Achtzigern noch klar: Meine Eltern gehörten wie viele ihrer Altersgenossen zu der Generation, die den ersten öffentlich-rechtlichen Radiosender in allen verfügbaren Geräten eingestellt hatten. Punkt. Dieser Fakt war genauso unumstößlich festgeschrieben wie die Tatsache, dass das Böse im Osten lauerte und man konservativ zu wählen hatte. Punkt. Und so entwickelte ich mich auch nach dem Fall der Mauer und den damit einhergehenden Veränderungen um in Stein gemeißelte Grundkonstanten herum: Während meine Eltern auf CSU-Parteitage als Delegierte wirkten, demonstrierte ich für die Freilassung der 90er-Linken-Ikone Mumia Abu-Jamal. Als ich meinen Eltern um die Jahrtausendwende herum eröffnete, dass ich mein Auslandsstudium an der Karls-Universität Prag absolvieren möchte, wurde ich mit „Denk daran, das ist ein Land, in dem ein Menschenleben nichts zählt!“ gen Osten verabschiedet. Und noch heute kann ich Bayern 1 nicht hören, ohne sofort nervös zu werden, weil ich die unterschwellig vermittelte Autorität, mit der ich dieses Programm assoziiere, nicht ohne Weiteres aushalten kann. Aber ihre Plakatwerbung ist lustig.
Ich habe diesen Sender vor allem als Bastion des Status-Quo-Erhalts und der Pflichterfüllung in Erinnerung. Erst später explodierte vor mir förmlich die Erkenntnis, dass ihren Hörern die 60er und 70er-Jahre auch eine ganze Menge Spaß gemacht haben müssen. Das Feuerwerk brannten speziell meine Eltern allerdings nicht vor meinen Augen ab.
Das Radioprogramm bei mir daheim hatte eine Redundanz, die man heute wahrscheinlich in Heimen für schwererziehbare Jugendliche eingeführt hat, um den Kindern beizubringen, wie wichtig Regeln und feste Formen sind. Bei heutigen Sendern, gerade im privaten Bereich vermute ich eine vorher verhandelte Quote, wie oft ein bestimmter Song pro Stunde, pro Tag und pro Woche gespielt werden muss, damit auch der Letzte noch versteht, welche Single gerade nach Ansicht der Plattenindustrie gekauft werden muss. Ähnlich denke ich, muss es in den Achtzigern bei Bayern 1 gewesen sein. Nur, dass sich hier meine völlig unbewiesene, subjektiv empfundene und aus der Luft gegriffene Behauptung auf die ganz großen Klassiker bezieht. Ich spreche von ebenjenen, bei denen ein Dieter Thomas Heck feuchte Augen bekommen hätte. Zum Beispiel „Der Papa wird´s schon richten“ von Peter Alexander.
Kennt jemand dieses Lied nicht? Mein Vater, nie ein Mann großer Worte aber dafür umso diffizilerer und feinerer Gesten, musste immer lächeln, wenn dieser Song gespielt wurde. Der Refrain beinhaltete die Textzeilen:“ Der Papa wird´s schon richten, der Papa macht´s schon gut, der Papa, der macht alles, was sonst keiner gerne tut ...“ Den gedanklichen Weg von Peter Alexanders Vater zu Vater Staat zu beschreiten, fällt mir gerade in diesem Augenblick bei dieser Nachrichtenlage nicht besonders schwer.
Vater Staat erhöht das Taschengeld für Hartz IV Empfänger um fünf Euro und lässt seinen Sorgenkindern gleichzeitig seine autoritäre Dominanz spüren, wenn es darum geht, für welche Dinge das Geld ausgegeben werden darf. Die Diskussion um die mögliche Erhöhung des Satzes für Alkohol und Tabakwaren von bestimmten öffentlichkeitshungrigen Vertretern des Staatsapparates ist viel bitterer als ein doch letzten Endes gut gemeintes „Aber trink nicht so viel, Kind!“ zu Beginn einer langen Club-Nacht. Es hat viel Symbolkraft, wenn eine siebenfache Mutter dem Ministerium für Arbeit und Soziales vorsteht. Denn zu Meta-Mutter Ursula können auch die großen Unternehmen jederzeit, wenn sie was angestellt haben.
Lang lebe Siemens! Vivat ThyssenKrupp! Ein Hoch auf Daimler, auf alle DAX 50, MDAX und TecDax-Unternehmen ein dreifaches „Hipp! Hipp! Hurra!“ Sie sind die Stützen der deutschen Wirtschaft, sie machen Vater Staat stolz und Mutter Ursula erzählt der Nachbarin immer mit leuchtenden Augen von ihnen. Doch, erinnert sich noch jemand an das Gefühl, das man als Kind hatte, weil die vermeintlichen Strahlekinder in Wahrheit immer besonders fies zu Anderen waren? Wie sehr man sie aus tiefster Seele hasste, weil man immer die Strafe aufgebrummt gekriegt hat, die sie selbst eigentlich absitzen mussten? Nicht erst seit meinem Jobverlust erhärtet sich in mir der Eindruck, dass hier gerade große Unternehmen in meiner Familienanalogie den Platz der gemeinen Streber-Petzen einnehmen, die nie die Abreibung bekommen haben, die sie verdient haben. Da wird nach außen hin gestrahlt und geglänzt, als ob die Erbtante zu Besuch käme, die immer besonders nette, strebsame und kluge Kinder zu sehen erwartet. Und nur wenige wagen einen ernsthaften, ehrlichen Blick hinter die Fassade. Denn da würde sich dann ein anderes Bild ergeben:
Uns Deutschen fehlt trotz guter Vorarbeit in Stuttgart oder im Wendtland immer noch das Feuer der Franzosen, wenn es um Demonstrationen geht. Deshalb gehen unsere Nachbarn wegen der geplanten Erhöhung des Rentenalters auf die Straße und wir nicht. Allerdings ist meines Erachtens nach die Klärung der Frage viel dringlicher, wie wir es in Zukunft schaffen, dass gerade die großen Konzerne nicht immer noch in großem Stil ihre Arbeitnehmer an der Grenze zum Rentenalter im großen Stil ausstellen. Oder Stichwort Fachkräftemangel: Wenn alleine die DAX-Konzerne sich endlich ernsthaft für richtig gute Ideen bei der Kinderbetreuung stark machen könnten, würde der Fachkräftemangel sehr schnell kein größeres Problem darstellen. Allen Vorreitern auf diesem Wege ein großes Lob von mir.
Loben will ich auf diesem Weg nochmal Vater Staat, bevor ich zum Ende komme. Ich werde nächste Woche eine Elternzeitvertretung in einer PR-Agentur beginnen. Dort werde ich für acht Wochen einen Vater vertreten und habe mir insgeheim in meinen finstersten Alpträumen schon einen mittelschweren, aber nötigen Papierkrieg ausgemalt. Weit gefehlt! "Rufen Sie einfach bei uns an, wenn es so weit ist.", sagte die nette, kompetente Dame der Telefon-Hotline bei der Agentur für Arbeit. Aufschwung, ich komme!

Dienstag, 26. Oktober 2010

Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann

"Mitbürger, Freunde, Römer! Hört mich an." Heute muss mal eines der größten Genies der Weltliteratur für einen Einstieg herhalten - William Shakespeare. Ich verehre das Werk dieses Mannes mehr, als ich es hier schreiben kann. Was ist ein "Soll ich Dich denn einen Sommertag Dich nennen? Dich, der an Herrlichkeit ihn überglänzt?" gegen "Hallo, ich heiße K.. Bist Du noch Single?". Klar, ich sehe ein: Shakespeare ist nur bedingt ein Maßstab. Allerdings hat K. sich mir am späten Nachmittag auf der Straße im Regen, als ich mit meinem mit Einkäufen überladenem Fahrrad gerade nach Hause steuerte, auch nicht gerade den Oscar für besonderes Einfühlungsvermögen mit seiner Frage verdient. Meine Reaktion war ähnlich direkt, keineswegs lyrisch und auf keinen Fall gemein. Ich habe K. entgeistert angeguckt und danach angefangen, schallend zu lachen."Dem Mai will Sturm die Blütenpracht nicht gönnen. Und Sommers Herrschaft ist so eng begrenzt." , tröstet da der Dichter. Eine wunderschöne Art, sich außerdem über das miese, englische Wetter auszulassen.
Was mir Shakespeare aber richtig sympathisch macht, ist nicht etwa seine Art, Frauen um den Verstand und zu Lebzeiten höchstwahrscheinlich in sein Bett zu schreiben, sondern sein Gespür für gute Geschichten. Zwei Menschen, die sich über alles lieben, aber kein Paar werden können wie in "Romeo und Julia". Ein skrupelloses Paar, das sich an die Macht gemordet hat und später Gerechtigkeit erfährt sowie die schönste, poetischste und gruseligste Darstellung von Waschzwang in der Weltliteratur in "Macbeth". Oder eben die mikroskopisch genaue Beobachtung von sozialen Mechanismen, wenn es um die Beurteilung von Verdiensten bedeutender Menschen geht, wie in "Julius Cäsar", Mitbürger, Freunde, Römer. Gestern und heute, Arktis oder Feuerland - die richtig guten Geschichten der Menschheit werden immer mit den selben Grundelementen erzählt. Und da unterscheidet sich ein heute in der Hochkultur eingeordneter Shakespeare nicht von einem gut gemachten Kinofilm oder einem Groschenroman-Heftchen. Zu Lebzeiten hat der gute Herr nämlich Volkstheater geschrieben - oder sollte ich es lieber Unterschichtentheater nennen? Ein Imagewandel braucht manchmal einfach ein bißchen Zeit.
Das Stichwort Imagewandel bringt mich auch zu einer der atemberaubendsten Stellen in "Julius Cäsar". Ich habe das Drama zum ersten Mal mit Anfang zwanzig in einer Berliner WG-Küche in die Hände bekommen. Vor mir ein Glas billiger Rotwein, neben mir meine Gitarre spielende Mitbewohnerin und links von ihr ein persischer Bekannter, dem ich großartige Erkenntnisse zur morgenländischen Literatur verdanke. Wir haben uns gegenseitig aus verfügbaren Büchern Stellen vorgelesen, die wir schön fanden. Meine Mitbewohnerin drückte mir einen Shakespeare Sammelband in die Hand, in der Musik wäre das ein Best-of-Album, und meinte, ich sollte vorlesen. Und ich tat, wie mir geheißen, las die Rede des Antonius auf Cäsars Beerdigung und genoß die Gänsehaut, die mir dabei über die Arme lief.
Für alle, die das Drama nicht genau kennen, kommt hier eine grobe Zusammenfassung: Cäsar hat die Herrschaftsgrundsätze der römischen Republik außer Kraft gesetzt, sich zum Diktator auf Lebenszeit ernannt, was einem gewissen Brutus nicht passte. Pikanterweise ist dieser Brutus so etwas wie der Ziehsohn von Cäsar gewesen. Im Glauben an seine guten Ideen brachte Brutus Cäsar Mitte März zusammen mit seinen Mitverschwörern um. Als Cäsar seinen Ziehsohn in der Mördergruppe sah, sagt er die geflügelten Worte "Auch Du, Brutus?" und setzt sich angeblich nicht mehr gegen seine Häscher zur Wehr. Cäsar bekommt ein Staatsbegräbnis, Brutus betont zu jeder Gelegenheit, dass er einen machthungrigen Tyrannen umgebracht hat und gibt damit, zumindest laut Shakespeare, die herrschende, öffentliche Meinung vor. Nur einer, nämlich Cäsars Freund Antonius hegt seine Zweifel. Und ist mutig genug, sie auch öffentlich bei seiner Grabrede auf Cäsars Beerdigung kund zu tun. Das wiederum tut er ziemlich geschickt: Schritt für Schritt demontiert er Brutus genüsslich, betont aber immer wieder, wie sehr dieser im Recht sei, denn (Zitat) "Brutus ist ein ehrenwerter Mann".
Die Feststellung, dass ein Gentleman wie Brutus aufgrund seiner Ehrbarkeit gar nicht falsch liegen könne, wird im Laufe der Rede immer mehr zur Farce und hilft Antonius dabei, seinen Freund Cäsar wieder zumindest ein wenig ins rechte Licht zu rücken. Zuerst meint Antonius noch:"Begraben will ich Cäsarn, nicht ihn preisen.", und konstatiert bald darauf ", was Menschen Übles tun, das überlebt sie". Cäsars Übel war - vor allem laut Brutus - seine Herrschsucht. Und Brutus ist ja bekanntlich ein ehrenwerter Mann. Deshalb will Antonius auch auf keinen Fall Brutus widerlegen. Um dann doch durch´s Hintertürchen seine Sicht der Dinge kund zu tun. "Ich spreche hier von dem nur, was ich weiß." Und dieses Wissen ist eine sehr differenzierte, aber letztlich doch positive Darstellung des Ermordeten.
In Bewerbungsratgebern steht der gute und wichtige Hinweis, dass man auf keinen Fall über seinen ehemaligen Arbeitgeber schlecht reden sollte, wenn man beim Bewerbungsgespräch zum Beispiel nach Gründen für das eigene Ausscheiden gefragt wird. Und es kostet mich jedes Mal meinen Jahresvorrat an diplomatischen Verhalten, richtig zu reagieren. Gerade wird meine Geduld auf eine erneute, eisenharte Probe gestellt: Obwohl ich seit einigen Monaten nicht mehr dem Unternehmen angehöre, stellt mein Ex-Arbeitgeber mir kein Zeugnis aus. Dazu habe ich herausgefunden, dass mir die zustehenden, vermögenswirksamen Leistungen seit Mitte 2009 nicht gezahlt wurden. Dazu kommt, dass meinem ehemaligemChef trotz offenkundig dagegen sprechender Fakten das Kunststück gelang, relevante Stellen zu überzeugen, dass ich schlechte Arbeit leiste. Dieses Spiel gipfelte in der Feststellung, dass der Personalchef mir zwar die Tatsache bestätigte, dass mir aus betrieblichen Gründen gekündigt wird, mir aber dann gleichzeitig unterstellte (Zitat) "ein wenig verhaltensbedingte Gründe sind ja auch dabei." Wenn ich also irgendwann ein Zeugnis bekommen sollte, würde es mich sehr überraschen, wenn es gut oder sogar sehr gut ausgefallen ist. Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann.
Gerade vollstreckt, also gewissermaßen erzwingt "mein" Anwalt R. für mich das Zeugnis vor dem Arbeitsgericht. Morgen muss ich einen Termin bei meiner Bank vereinbaren, um mich über die Details der fehlenden Zahlungseingänge kundig zu machen. Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Wenn ich dann das Zeugnis in den Händen halte, werde ich es einscannen, und mich zum Beispiel bei einer großen AG im Münchner Norden zu bewerben, die auf ihrer Homepage auf komplette Bewerbungsunterlagen bestehen. Und ich möchte nicht wissen, wie viele Absagen auf wirklich interessante Jobs ich bekommen habe, weil mein aktuelles Zeugnis noch nicht vorliegt. Doch Brutus ist ein ehrenwerter Mann. Ich will, was Brutus sagt, nicht widerlegen. Ich spreche nur von dem hier, was ich weiß. Was Menschen Übles tun, das überlebt sie.
Die Zeit ist also auf meiner Seite ...




um ZwOder ei Mensch
und Sommers Dem Mai will Sturm Herrschaft ist so eng begrenzt.
ill Sturm die Blütenpracht nicht gönnen,
und Sommers Herrschaft ist so eng begrenzt.

Dienstag, 19. Oktober 2010

Sehr geehrter Herr Aufschwung,

mit großem Interesse habe ich erfahren, dass Sie nach Deutschland kommen. Da in den unterschiedlichen Medien Ihr Erscheinen angekündigt wurde, konnte ich mir die Gelegenheit nicht entgehen lassen und möchte mich im Folgenden bei Ihnen umgehend als Pressesprecherin bewerben. Denn ich gehe davon aus, dass Sie eine erfahrene Fachkraft benötigen, die die unterschiedlichen Ankündigungsmeldungen für Sie koordiniert und mit größtmöglichem, positiven Effekt an die Presse bringt.
Ich bin 32 Jahre alt und seit mittlerweile über sechs Jahren im Kommunikationsgeschäft tätig. Meine Karriere als verwunderter Arbeitnehmer begann, als ich am 14. Februar 2003, dem Tag der Liebenden, meinen Universitätsabschluss erhielt. Ich hatte bisher alles so gemacht, wie es von mir erwartet wurde: Einen Einser-Abschluss innerhalb der Regelstudienzeit erreicht, sechs Praktika, interessante Nebenjobs, ein Semester an einer interessanten Universität im Ausland studiert; damals sprach ich zwei Fremdsprachen wirklich passabel, eine weitere ganz gut und hatte nebenbei die Aufnahmeprüfung zur Journalistenschule beinahe geschafft. Gleichzeitig hatten an den Aktienmärkten der Welt sich Spekulanten an der Aufgabe übernommen, wilde Internet-Firmen mit halbseidenen Konzepten blind und abenteuerlustig zu finanzieren. Aus meiner Kindheit in den Achtzigern weiß ich, dass wir in unseren Kaufläden nicht so verdammt hirnlos waren.
Im Dezember 2003, also ganze zehn Monate später, wurde ich zum ersten Mal begeistert in den Räumen einer Firma als neuer Mitarbeiter begrüßt. Ich hatte zu dem Zeitpunkt bereits unzählige Bewerbungen an die unterschiedlichen Stellen geschrieben und einmal sogar eine Absage, die an einen HERRN M. adressiert war, erhalten. Wie Sie unschwer meinem beigefügten Lebenslauf entnehmen können, bin ich weiblichen Geschlechts. Trotzdem wurde mir im beigefügten Begleitschreiben versichert, man hätte meine Unterlagen (Zitat) "eingehend geprüft". Man nahm sich kurz vor dem Nikolaustag meiner an und fügte mich einem bis heute ständig anwachsenden Heer von Zeitarbeitnehmern hinzu: Jederzeit kündbar, jederzeit anders einsetzbar, mit weniger betrieblichen Mitbestimmungsrechten als Festangestellte. Wenn ich richtig informiert bin, hat die Dienstleistungsgewerkschaft ver.di, bei der ich übrigens Mitglied bin, mittlerweile in vielen Bereichen diesen Mißstand beseitigt. Mein Weg führte mich zu einem großen Autobauer, den ich kommunikativ zum Beispiel mit Newslettern und an einer eigens für Zuliefererbetriebe eingerichtete Hotline dabei unterstütze, die Wareneingangssoftware seiner Werke auf SAP umzustellen. Experten mit SAP-Zertifizierung hätten mich aus Mitleid zum Kaffee eingeladen, wenn sie erfahren hätten, wieviel ich verdiene, wenn ich ihren Job teilweise mit erledige. Aber: ich habe dort gelernt, komplexe Sachzusammenhänge einfach aufzubereiten und verzweifelten Zuliefererbetrieben, die von den Einkäufern des Autobauers schon wieder das Messer auf die Brust gesetzt bekommen haben, damit sie noch billiger produzieren lassen, die Anforderungen für die SAP Software verständlich darzustellen. Aber für mich zählte: Ich war drin, ich war endlich drin.
Sechs Monate später nach der dritten Projektverlängerung, die zuerst nicht sicher war, wechselte ich zu einem Fernsehsender, wo ich nach über einem Jahr Wartezeit endlich offiziell in meine Karriere als Pressefachkraft starten konnte. Ich erhielt einen befristeten Vertrag, verdiente netto so viel wie während meiner Zeit als HiWi eines schusseligen Professors. Nur war mein Dienst an der Wissenschaft ein Teilzeitjob, der sich auf fünfzehn Stunden belief. In meinem Arbeitsvertrag für das PR-Volontariat standen vierzig Stunden. In der Praxis arbeitete ich eine ganze Menge mehr.
Dann nach zwei Jahren die Premiere! Mein Vertrag wurde um weitere zwei Jahre verlängert, was vor mir noch nie einem Volontär gelang. Wie viele Schlachten dafür geschlagen wurden, können Sie sich nicht vorstellen! Ich hatte mittlerweile eine exzellente Ausbildung absolviert, ich wusste über alle Arbeitsvorgänge in der Abteilung bestens bescheid und wurde von allen Ecken und Enden mit Arbeit überhäuft. Aber ich beschwere mich keineswegs. Vorgesetzte und Kollegen waren wirklich sehr zufrieden mit mir. Nachträglich betrachtet war das die schönste Zeit meines bisherigen Erwerbslebens.
Als der Ablauf der zweiten Zwei-Jahres-Frist immer näher rückte, wollte ich einen endlich einen unbefristeten Vertrag haben. Wie heißt es so schön? Never change a winning team. Warum sollte man nicht wenigstens über meine Bitte nachdenken? Schließlich war man ja sehr zufrieden mit mir, wie man mir immer wieder versichert hatte. Und in anderen Abteilungen konnten befristete Verträge ebenfalls in Festanstellungen umgewandelt werden. Leider war mein Vorgesetzter plötzlich gar nicht mehr zufrieden mit meiner Arbeit. "Schließlich muss es doch einen Grund geben, warum Du nicht bleiben kannst." Unsagbar gekränkt suchte ich mir einen neuen Job. Mein Vorgesetzter wurde auch bald - wie heißt es so schön? - "im gegenseitigen, freundlichen Einvernehmen." an die frische Luft gesetzt, als sein drittes Kind gerade unterwegs war. Seit seinem Weggang frage ich mich, ob ich mein Talent zum Verfluchen in irgendeiner Weise zu Geld machen kann.
Die neue Möglichkeit kam grad zur rechten Zeit: Großes, prestigeträchtiges Unternehmen, viel Geld und viele Möglichkeiten, die ich für mich dort gesehen habe. Dass ich in der Vorhölle eines Professors für Arbeitsorganisationspsychologie gelandet war, konnte ich nicht ahnen. Mein ganzes Umfeld war zum Großteil damit beschäftigt, entweder unter Ablaufdefiziten zu leiden, selbst welche zu verursachen oder Beschäftigung vorzutäuschen. Aber am schlimmsten war das Einfügen in ein anderes Raum-Zeit-Verständnis: "Schnell!" hieß nicht "in spätestens einer halben Stunde" sondern "sogar noch innerhalb dieser Woche, wenn Du Glück hast." Meine Ideen zur Ausgestaltung dieser Stelle starben einen langen und qualvollen Tod. Als ich sie zu Grabe getragen hatte, drohte man mir zum ersten Mal mit Rauswurf. Wenige Monate später war es dann soweit. Und wieder versuchte ich es mit Verfluchen und Verwünschen mit bisher unbekanntem Ergebnis.
Ich würde für die Arbeit bei Ihnen, sehr geehrter Herr Aufschwung, umfassende Qualifikationen mitbringen: Ich beherrsche die PR-Klaviatur auf Konzert-Niveau, wie ich in mittlerweile über dreißig Bewerbungsschreiben immer wieder betont habe. Und vor allem bin ich lern- und arbeitswillig wie keine Zweite. Neue Branchen kennenlernen? Auch mal Überstunden schieben, damit das Projekt fertig wird und der Kunde zufrieden ist? Sie können, verehrter Herr Aufschwung, davon ausgehen, dass ich nichts lieber täte als das. Auch Abstriche beim Jahresgehalt machen mir nichts aus. Dafür lieber glücklich, erfüllt, mit Aufgabe.
Den Rest meines Lebenslaufs zieren die üblichen Wegmarken einer qualifizierten Arbeitskraft: Weiterbildungen mindestens einmal im Jahr, Englisch wie Deutsch auf einem hohen, meiner Tätigkeit aber angemessenem Standard. Gut vernetzt in der Medienszene und auch bei den technischen Entwicklungen und Möglichkeiten im Jahr 2010 auf dem neuesten Stand.
Ich würde mich sehr freuen, Sie in einem persönlichen Gespräch zeitnah kennenzulernen. Gerne kann ich Ihnen bei Interesse Terminvorschläge unterbreiten. Im Anhang finden Sie meinen Lebenslauf und Referenzkontakte. Einstweilen verbleibe ich

Mit freundlichen Grüßen

Dienstag, 12. Oktober 2010

Das Leben als TO DO Liste?

Ich finde, es ist höchste Zeit, F. ein Denkmal zu setzen. Ich kenne ihn seit bestimmt zehn Jahren. Von 2004 bis 2008 haben wir ein Büro geteilt und er hat mir eine ganze Menge über den Beruf, den ich heute theoretisch ausübe, beigebracht. Nur wer F. kennt, weiß, was das bedeutet: Die richtigen Fragen und Anmerkungen zur richtigen oder auch mal zur komplett falschen Zeit. Diamantenhart geschliffene Sprachkritik. Immer auf der Suche nach den Absurditäten des Alltags (und der ist weiß Gott voll davon!). Ein Leben in Film-und TV-Universen. Und wenn er lacht, was absurderweise total hell und kichernd klingt, kommen ihm sehr schnell die Tränen. Irgendwann hatte ich beschlossen, F. mit dem chinesischen Titel "Shi Fu" zu versehen. Die deutsche Übersetzung hierfür lautet "Meister", was ich wiederum aus einem zweitklassigen Hongkong-Actionfilm weiß. Allerdings kann für F. auch nur ein zweitklassiger Hongkong-Actioner für Ehrentitel in Frage kommen. Und das ist, wenn man F. kennt, ein Kompliment.
Uns ist es gelungen, unsere Freundschaft auch nach 2008 zu pflegen. Und so saßen wir eines Abends in einem Irish Pub und lösten dort ein Pub Quiz. Das ist ein etwas absurder Brauch aus dem englisch-irischen Raum, bei dem der Wirt einer Kneipe in verschiedenen Runden Fragen beantworten lässt. Das Team mit den meisten richtigen Antworten gewinnt. Was weiß ich nicht, F. und ich haben noch nie gewonnen. Ohne F. würde ich auch hier in Deutschland an keinem Pub Quiz teilnehmen.
F. beobachtet sich und seine Umwelt zu jeder Tages- und Nachtzeit sehr ausführlich. Und so kam es zu einem sehr treffenden Kommentar zu seinem aktuellen Äußeren. F., mittlerweile Anfang vierzig, hatte schon früh fast weiße Haare bekommen. Jetzt sind sie so lang, dass er sie sich im Nacken zusammen binden kann. Diesen Umstand kommentierte er etwas ironisch mit "Na endlich werde ich mein eigenes Klischee! Ein grauer langer Zopf ist etwas, was ich in meinem Leben dringend erreichen wollte."
Schnitt, Rückblende. Einige Monate vor dieser Begebenheit war ich mit meiner Freundin C. in der Lach- und Schießgesellschaft. Dort trat der Kabarettist Claus von Wagner auf. C. und ich haben zusammen mit Claus studiert und wie viele unserer Kommilitonen hat er schon eine eindrucksvolle Karriere hingelegt: Nach unserem nicht gerade vordergründig karriereträchtigen Studium war seine Entscheidung, politischer Kabaretist zu werden, sehr sinnvoll, wie ich finde. Claus reiht sich damit in die Reihe meiner mehr oder weniger berühmten und umtriebigen Kommilitonen ein. Ich kenne Schweden-Korrespondenten und Pressesprecherinnen, weibliche Regierungsräte und Magazin-Entwickler, deren Interviews ich interessiert lese. Mehr und mehr gleichaltrige Bekannte bekommen Kinder. Und ich stehe arbeitslos mittendrin, gucke mir das Treiben kritisch an und frage mich, wie meine Komilitonen wohl an ihr Leben rangehen, wie ich das gestalten soll und ob es so etwas wie ein Geheimrezept dafür gibt.
Abi - erledigt. Studium mit Einser-Durchschnitt - fertig. Karrierestart - letztendlich habe ich einen ganz brauchbaren hingelegt. Und jetzt? Welche biographischen Pflichtstationen muss ich jetzt abarbeiten? Wird jetzt von mir erwartet, dass ich zwei schnuckelige Zwerge in die Welt setze und dann zur Kinder-und-Karriere Mutter werde? Muss ich jetzt ins Vorort-Häuschen aus der Fernsehwerbung? Oder kommt jetzt (endlich?) der große Karriere-Durchbruch? Die eigene Firma? Die Abteilungsleitung? Und was passiert, wenn man diese biographische TO DO-Liste abgearbeitet hat? Nichts mehr oder kommt dann die Belohnung für den Lebens-Fleiß? F. würde mich jetzt erstmal für eine unzulässige Anglizismus-Verwendung maßregeln und irgendwas in Richtung "TO DO-Liste? Wie würde das denn auf Deutsch heißen? Gibt es dafür überhaupt noch ein einziges deutsches Wort? " fragen.
Nein, F., mir fällt zumindest grad keines ein. Das ist auch nicht schlimm, denn ich möchte bei der Vorstellung, meine Lebensstationen abzuarbeiten, am liebsten wegrennen. Dann lieber sein eigenes Klischee werden wie F.! Ich bin neun Jahre jünger als er. Zeit, sich an die Arbeit zu machen.

Sonntag, 19. September 2010

Zeitnutzungs-Sphären und eine Woche voller Sonntage

Letzten Freitag hat mein Freund früher Feierabend gemacht. Und weil unsere Stehlampe im Wohnzimmer schon seit Ewigkeiten kaputt war, schlug er vor, wir sollten doch die Gelegenheit nutzen, um mal zu IKEA zu fahren und eine neue Lampe zu kaufen. Unser Modell war nicht mehr vorrätig, aber wir besitzen jetzt ein hübsches Dekokissen für unser Sofa. Nach unserer Fahrt ins Münchner Umland mussten noch Lebensmittel für´s Abendessen eingekauft werden. Alles was wir uns an diesem Freitag vorgenommen hatten, konnten wir auch erledigen (und mittlerweile steht eine viel hübschere Stehlampe in unserem Wohnzimmer und aus Schweden ist sie auch nicht). Außerdem bin ich auch noch um eine sehr wichtige Erkenntnis reicher, die mich an diesem Freitag allerdings sehr erschreckt hat. Ich bin nämlich mittlerweile in einer anderen, viel langsameren Zeitnutzungs-Sphäre angekommen wie der Mann an meiner Seite.
Wie bereits erwähnt ist mein Freund ein ehemaliger Kollege, in den ich mich verliebt habe. Wir hatten sogar in der selben Abteilung gearbeitet und in Grundzügen unterschieden sich ungefähr zwei Drittel unserer Aufgabenbereiche gar nicht voneinander. Wir waren bzw. er ist bis heute in einem Münchner Medienunternehmen beschäftigt, in dem man wirklich viel Arbeit in kürzester Zeit erledigen muss. Dieser positive Stress, alles zack!zack! wegschaffen zu müssen lag mir sehr und passte gut zu meiner von Grund auf faulen, aufschiebenden Persönlichkeit. Dann wechselte ich zu meinem letzten Arbeitgeber und erlebte das komplette Gegenteil: Von "schnell!schnell!" und "zack!zack!" musste ich mich schmerzvoll verabschieden. Stattdessen sollte meine Hauptbeschäftigung wohl daran bestehen, Arbeitsbelastung vorzugeben. Weil mir das nicht liegt, litt zwei Jahre Höllenqualen, weil ich chronisch unterbeschäftigt war. Am 17. Mai habe ich zum letzten Mal ein Büro betreten. Seit dieser Zeit hatte ich im Grunde schon immer zumindest ein bißchen was zu tun. Ich treibe bis zu fünf Mal die Woche Sport, erledige Hausarbeiten, kümmere mich um Papierkram, poliere meine Fremdsprachen auf, studiere sehr ausführlich online und offline Stellenbörsen und bewerbe mich dementsprechend. Ich probiere viele neue Rezepte aus, arbeite seit neuestem auch ein wenig als eine Art unbezahlte Teilzeit-Praktikantin in einem spannenden Projekt. Aber das Grundproblem ist: Was hier nach viel klingt ist allerdings viel zu wenig, um es in eine Woche zu packen. Die Physiker sagen, Zeit kann sich ausdehnen, ich sage, auch zu erledigende Tätigkeiten können und sollten das. Denn die Zeit, die man übrig hat, wenn man alles erledigt hat, wird schnell zu einem sehr hinterlistigen Gegner.
Vor einiger Zeit gab es einen sehr differenziert geschriebenen Artikel im SPIEGEL. Ich persönlich mag es sehr, wenn dem weit verbreiteten "Sowohl als auch" auf dieser Welt anständig Rechnung getragen wird und dieser Artikel hat dieses Kunststück geschafft. In dem besagten Stück ging es um das Thema Arbeitslosigkeit. Und dem Autor (oder der Autorin? Ich weiß es nicht mehr!) gelang das Kunststück, zwei sehr exemplarische Fälle sehr kunstvoll miteinander zu verbinden. Die eine Beispielsperson kostete die ihr vom Gesetzgeber zugestandenen Rechte voll aus. Die andere versuchte ständig zu arbeiten, aber es klappte nie so richtig und sie war gefangen im "Arm trotz Arbeit"-Universum. Letztgenannte Person wurde mit einem unheimlich treffenden Satz zitiert. Sie hätte sich während ihrer Arbeitslosigkeit gefühlt, als sei ständig Sonntag. Die Kinder waren in der Schule und um 10 Uhr morgens war der Haushalt so weit erledigt, dass sie den ganzen Tag für sich hatte. Schöne Vorstellung, wenn man dieses Gefühl sehnsuchtsvoll in stressigen Situationen vermisst. Nur eine Überdosis davon, eine Woche, einen Monat, ein Quartal oder sogar mehr voller Sonntage macht irgendwann einfach krank im Kopf.
Ich persönlich lernte früh, anstehende Tätigkeiten zu dehnen, zu ziehen und zu strecken und ich bin mittlerweile froh, dass ich bei meinem letzten Arbeitgeber eine Art bezahltes Trainingscamp absolvieren durfte, in denen ich von meinem extrem hohen Erledigungs-Level in einem Medienbetrieb auf mein extrem niedriges Level langsam und bei vollem Lohnausgleich hinunterreduziert wurde. In mikroskopisch kleinen Schritten verlangsamte sich im Laufe der Jahre mein ganzes Sein, bis es dann irgendwann auf einer anderen Zeitschiene wie das meines Freundes ablief, was mir beim oben genannten IKEA-Besuch eindrucksvoll vor Augen geführt wurde. Mittlerweile, im dritten Monat Arbeitslosigkeit ist die freie Zeit zu meinem Feind geworden. Ganz egal, was ich tue, sie ist immer stärker und mächtiger als ich.
Mein Sportprogramm ist mein erster Anker, der mich oft in den Tag hineinziehen kann. Denn wenn ich nach dem Frühstück zum Beispiel erstmal mein Lauftraining absolvieren kann, habe ich vor dem Mittagessen schon etwas geschafft. Danach geht es darum, die anstehenden Erledigungen abzuarbeiten - eigentlich gar nicht so schwer. Ich hatte mir früher in Zeitnot oft gewünscht, jedem meiner TO-DO-Punkte ein bißchen mehr Aufmerksamkeit widmen zu können. Mittlerweile hat sich das ins Gegenteil verkehrt: Ich hasse sie! Jeder einzelne Punkt geht mir nur auf die Nerven!
Wenn ich einkaufen muss, hetze ich nicht kurz vor Feierabend in den Supermarkt, sondern muss schon den Weg dorthin künstlich verlängern. Deshalb schlendere ich und mein Freund rennt. Ich zähle schon nicht mehr nach, wie oft ich am Computer mein Mailprogramm oder Facebook aufrufe, es würde mich nur unnötig frustrieren. Am allerschlimmsten sind die Tage, in denen ich nicht um acht aus dem Bett komme. Warum sollte ich überhaupt aufstehen? Wen interessiert es, ob ich bis mittags im Bett bleibe? Wen interessiert es, ob ich überhaupt irgendwas in den vor mir liegenden Stunden erledigt habe? Die wenigen Punkte, mit denen man seinen Tag verbringen könnte, bleiben auch liegen. Denn, wen interessiert es, ob ich heute oder morgen die schmutzigen Fenster putze, heute oder morgen den wichtigen Anruf erledige und so weiter und so weiter ...
Meine Erkenntnis, die ich hier gewonnen habe? Unterforderung ist Folter und eine passende Beschäftigung gibt den Menschen Würde. Mit angespannten, blank gescheuerten Nerven warte ich, was noch kommt. Einstweilen vergeht die Zeit.

Freitag, 10. September 2010

FRAU K. und das kleine Bisschen literarischer Größenwahn

Neulich beim Bewerbungsgespräch: Ich hatte mich bei dieser Agentur beworben, die so hip war, dass alles an ihr schon ein wenig übertrieben wirkte. Mein Termin fand mit dem Geschäftsführer, dem stylishsten Schluffi, den ich seit langem gesehen habe, einer sehr sympathisch wirkenden Mitarbeiterin aus dem Bereich PR und der Personalerin Frau K. statt. Ich wähle hier das bewusst distanzierende "Sie", auch wenn in Agenturen wie diesen ohnehin alles geduzt wird, was nicht bei drei auf den Bäumen ist. Denn FRAU K. halte ich mir noch eher vom Hals als S..
Wir saßen kaum, schon fiel die erste, entscheidende Frage. FRAU K. wollte wissen, ob ich nach meinem Weggang von meinem letzten Arbeitgeber denn einen Aufhebungsvertrag unterschrieben hätte. Ich verneinte und wies sie auf die Nachteile, die das für mich bedeutet hätte, hin. Das Gespräch entsponn sich weiter und nahm an Fahrt auf.
FRAU K. sass zu meiner rechten, trug ihr dunkelblondes Haar lang einen braunen, modisch geschnittenen Pullover, farblich passende Stiefel und eine helle, eng anliegende Jeans. Sie ist ungefähr einen halben Kopf kleiner als ich und war ständig um den Eindruck penetranter Professionalität bemüht. Vermutlich war mein Anfangs-Schwinger mit dem Aufhebungsvertrag schon zu viel für sie. Denn FRAU K. holte bald zum entscheidenden Vernichtungsschlag aus. Sie holte Luft und im Nachhinein kann ich mich des Eindrucks nicht erwehren, etwas gepresstes in ihrer Stimme gehört zu haben: "Jetzt stellen Sie sich mal vor, Frau M. ..." Gott sei Dank siezte mich FRAU K. auch, "... sie bekommen von der Firma ein Budget von 3.000 Euro ...." Alles klar, sie will, dass ich ein kleines Event plane! Kann FRAU K. haben! , "... und müssten sich für ein Abendevent mit einem Kunden einkleiden. Welche Marken würden Sie wählen und was würde es kosten?" Ich sass da, hatte keine 300 Euro am Leib und war platt. Die Agentur betreute weder Kunden aus dem Haute Couture-Bereich noch musste man bei ihr andere Vorkenntnisse in Sachen Mode haben. Wenn sie meine Markenaffinität dort testen wollten, habe ich gut abgeschnitten, aber woher zum Teufel soll ich wissen, was die einzelnen Marken kosten, FRAU K.?
Mein restlicher Text trug mich mit Lichtgeschwindigkeit aus der Umlaufbahn von FRAU K., dieser Agentur und einer Festanstellung dort. Drei Fragen später wollten sie mein ohnehin schon bescheiden angesetztes Jahresgehalt drücken. Gott sei Dank hatte ich die Geistesgegenwart besessen und "Dann könnte ich mir aber die Schuhe von meinem Outfit-Vorschlag nicht leisten!" nachzumaulen. Daheim angekommen habe ich gesehen, dass FRAU K. mir um 11:25 Uhr eine Absage gemailt hat. Das Gespräch selbst mit der 3.000 Euro-Frage fand um 14:00 Uhr statt.

Nach solchen erniedrigenden Erlebnissen habe ich immer erstmal das dringende Bedürfnis, in das Lager eines Verlages einzubrechen und den letzten Bestand dieser unsäglichen Bewerbungsratgeber ("In drei Schritten zum Traumjob", "So klappt es mit der Karriere" oder ähnliche, wirklich existierende Titel; die beiden hier hab ich nämlich gerade erfunden) mit Benzin zu übergießen und anzuzünden. Liebe Personalverantwortliche, das geht zu weit! Vor Jahren wurde mir mal eine Bewerbung mit den Worten "Sehr geehrter Herr M., nach gründlicher Prüfung ihrer Bewerbungsunterlagen ..." zurückgeschickt. Damals trug ich die Haare zwar noch etwas kürzer als heute, war aber trotzdem schon FRAU M. und auch als solche eindeutig zu erkennen. Bis heute ist diese ungewollte Geschlechtsumwandlung mein persönlicher Platz 1 bei den erniedrigendsten Erlebnissen rund um die Jobsuche. FRAU K. und ihre Escort-Service Ausstattung für 3.000 Euro haben es aus dem Stand in die Top 3 geschafft. Herzlichen Glückwunsch, Schätzchen!
Warum schreibe ich das hier eigentlich alles nieder? Warum begnüge ich mich nicht mit der Möglichkeit, allen übellaunig von meinen Erlebnissen zu erzählen oder alles bei Facebook zu posten? Nun ja, weil ich es KANN. So, Schluss, aus, basta! Ich habe hier nämlich den Ehrgeiz, diesen Blog völlig subjektiv mit meinen Erlebnissen rund um meine Jobsuche zu füllen. Sperrig, ehrlich, so wie mir der Schnabel gewachsen ist.
Ursprünglich sollte dieser Blog ja meine Erlebnisse als Berufs-Pendlerin wiedergeben. Zwei Jahre lang starb ich fast vor Langeweile in meinem Job, musste mich bemühen, alle anstehenden Aufgaben für eine Arbeitswoche nicht schon mittwochs erledigt zu haben und brauchte dringend eine Möglichkeit, um meine Energien sinnvoll loszuwerden, sonst wäre ich wahrscheinlich geplatzt. Weil ich die neu enstehenden und heiß diskutierten Möglichkeiten eines Blogs ausprobieren wollte, entschloss ich mich als anonyme Pendlerin meine Beobachtungen ins Netz zu stellen, wie auch in einigen Fällen hier realisiert. Tja, und dann gab mein Ex-(Danke, Schicksal!) Chef meinem Blog-Vorhaben einen dramaturgisch höchst interessanten Twist, den ich in Folge 1 versucht habe, darzustellen.
Ich nutze die mir zu meiner Verfügung stehende Zeit gerade auch unter anderem, um mich beruflich fortzubilden. In einem meiner Lehrbücher, die ich mir zu diesem Zweck gekauft hatte, stand, dass Blogs heutzutage viel mehr Informations- und Ratgeber- als Tagebuch- und Erlebnischarakter haben sollen. Hm, Mist! Meine eigentliche Intention, mich hier zu verewigen, entsprang nämlich auch im Grunde meiner gesunden Portion literarischen Größenwahns. Was soll´s? Ich mach hier trotzdem weiter ...

Montag, 2. August 2010

Die spätrömische Dekadenz ist tot

Immer wenn ich Archäologen kennen lerne, geht für mich ein kleines bisschen die Sonne auf. Ich kenne zwar nicht wirklich genug, um repräsentative Aussagen über diesen Berufsstand zu treffen, aber meine drei Referenz-Personen strahlen eine besondere Aura aus: Gebildet, belesen und herrlich un-trendy. Wenn andere sich Sorgen machen, dass sie mit Album-Downloads von Janellé Monaé im Auge des künstlich hochgejubelten Beliebigkeits-Massengeschmacks sind, gehen sie zu Händel-Festspielen. Während rund 90 % der deutschen Bevölkerung ihrer Nationalmannschaft in Südafrika stammesgleich bemalt und Vuvuzela-trötend beisteht, freuen sie sich darüber, wie ruhig es auf den Straßen ist und enttarnen sich wenig später durch selbstbewußt hervorgebrachte Kommentare, wie herzlich wenig sie von Fußball verstehen. Schnurz! Egal! Jacke wie Hose! Die dürfen das! Denn zu unzähligen Gelegenheiten haben die drei Referenz-Archäologen es schon großartig verstanden, ebenso großartige nahe- wie auch etwas ferner liegende Erkenntnisse zu verschaffen.
M. arbeitet gerade in Ägypten bei einer Ausgrabung mit und ist in unregelmäßigen Abständen hier in München. Er ist einige Jahre jünger als ich und strahlt trotzdem schon jetzt die ruhige Weisheit seines Berufsstandes aus. Wenn andere laut diskutierend gerade die Gruppenmeinung zum besten zu geben glauben oder besonders witzig und unterhaltsam sein wollen, habe ich M. schon oft dabei beobachtet, wie er die Disputanten einfach nur anguckt und mir vorgestellt, wie er sich in seinem geistigen Auge ein Gesamtbild von uns anfertigt, das, dem Da Vinci Fresko vom letzten Abendmahl nicht unähnlich, auf seine Art für die Ewigkeit Bestand haben soll. Manchmal platziert M. Wortmeldungen und die sind immer besonnen und wohlüberlegt. So zum Beispiel neulich, als wir hochemotional erst das fatale Volksbegehren zum Zigarettenrauch in öffentlichen Räumen erörterten und dann zu den Verfehlungen der Bundespolitik im Einzelnen kamen. Leider kommt man dabei nicht am amtierenden Außenminister vorbei, der die Würde seines Amtes komplett ignorierend, vor einiger Zeit mit dem entsetzlichen Ausspruch von der "spätrömischen Dekadenz" sich ins kollektive Gedächtnis gedrängt hat. M. repetierte daraufhin das, was wir alle schon in Geschichte gelernt, aber längst wieder vergessen hatten: In der spätrömischen Periode war das Christentum schon so weit im Römischen Reich verbreitet, dass von Dekadenz längst keine Rede mehr sein konnnte.
Trotzdem oder gerade deshalb möchte ich mir hier noch mal die populistische Annahme des Herrn Westerwelle zur Brust nehmen und für alle, die es noch nicht selbst erfahren haben, den Umgang eines frisch gebackenen Arbeitslosen mit der eigenen finanziellen Situation so gut es mir möglich ist, beschreiben. Ich schränke deshalb meine Aussage ein, weil ich keine Kinder habe, keine langfristigen finanziellen Verpflichtungen wie Wohneigentum oder ähnliches zu bedienen habe, und ich im Vergleich zu vielen anderen Arbeitslosen früher wirklich gut verdient habe.
Am schlimmsten ist der Anfang. Ich hatte mein letztes Gehalt bezogen und wußte ungefähr sechs Wochen nicht, woher mein nächstes Geld kommen sollte. Wer wie ich auf Wiedereinstellung klagt, ist juristisch gesehen noch nicht ganz arbeitslos. Am Tag, als ich die Kündigung in der Hand hielt, musste ich mich trotzdem bei der Agentur für Arbeit melden und ein Prozess lief an, der mir eine Frist setzte, bis zu der mein Arbeitgeber die so genannte Arbeitsbescheinigung ausgefüllt an die Agentur für Arbeit übermittelt haben sollte. Tja, und mein Arbeitgeber ließ diese Frist erst mal prompt verstreichen. Ich selbst strich einstweilen meine Ausgaben rigoros zusammen:
Laufende Versicherungen kann man gewissermaßen einfrieren, Verträge kann man kündigen, Haushaltsgeld kann sehr stark gestreckt werden, doch irgendwann kam ich an den Punkt, wo es begann, wehzutun: Ich hatte mir bisher, egal wie meine finanzielle Situation war, immer die Mitgliedschaft für ein Fitness-Studio und ein Abonnement der Zeitschrift SPIEGEL geleistet. Mit einem Kloß im Hals entschloss ich mich, den Hamburgern meine Gefolgschaft aufzukündigen und beendete einen Vertrag, der schon seit meinem Grundstudium lief. (Den Vertrag für das Fitness-Studio ließ ich weiterlaufen, schließlich liegt dort unter anderem DER SPIEGEL aus). Ich ass nicht mehr auswärts, beim wenigen Weggehen gab´s nur noch hin und wieder ein Bier und wehmütig verkniff ich mir mein heißgeliebtes Kino.
Wie bereits mehrfach betont, sind meine Fragen hier echte Luxus-Probleme. Trotzdem ist es mir wichtig, an diesen Beispielen zu vermitteln, vor welchen finanziellen Fragen man auch als gut ausgebildete Fachkraft ohne Kinder und laufender Hypothek steht. Den Gürtel enger schnallen an sich ist für mich kein Problem, mein SPIEGEL-Abo zu kündigen, das mich so lange Jahre begleitet hatte, war machbar, aber schön ist echt anders, Herr Westerwelle! Und wenn mich Lusche schon mein SPIEGEL-Abo Herzblut kostet, wieviel Respekt muss man dann eigentlich zum Beispiel vor vielen alleinerziehenden Müttern auf Hartz IV haben, die es auch irgendwie schaffen, durch den Tag zu kommen? Vielleicht gibt´s ja irgendwo noch einen geheimen Sonderetat in der Schatulle des Guido W., denn ein solcher populistischer Blödsinn sollte ihn eigentlich Wiedergutmachung kosten. Das Geld könnte man bestens zum Beispiel für bezahlbare Kinderbetreuung nutzen, um bei den alleinerziehenden Müttern zu bleiben.
Am Ende wird, wie so oft, alles doch wieder gut. Ich bekam eine Mail aus Hamburg, in der mir ein lukratives Angebot von der Abteilung Kündigungsmanagement gemacht wurde, wenn ich mich gleich für einen neuen Vertrag entscheide. Das Abo ist tot, lang lebe das Abo! Ich weiß jetzt, welche Versicherungen eigentlich unnötig sind und gekündigt werden müssen. Und dieser Blog ist die letzte offizielle Verwendung der Wörter "spätrömisch" und "Dekadenz". Der Ausspruch wird hiermit für tot erklärt (Zeitpunkt des Todes 15:18 Uhr). In den diesjährigen Jahresrückblicken darf nochmal an sie erinnert werden.